Was, wenn die Frauen gar nicht (mehr) wollen?

Vor schwarzem Hintergrund sieht man eine junge weiße Frau mit skeptischem Gesichtsausdruck, die ihren Kopf in ihre linke Hand stützt. Foto von Niklas Hamann bei Unsplash.com.
Foto von Niklas Hamann bei Unsplash.com

Einst saß ich bei einer Veranstaltung mit sechs Frauen an einem Tisch, darunter eine promovierte Abteilungsleiterin aus der Automotive-Industrie, eine Partnerin einer juristischen Großkanzlei, eine IT-Spezialistin in Führungsposition. Allesamt top ausgebildete Führungs- und Fachkräfte mit Erfahrung und Expertise. Jede dieser Frauen repräsentierte auf unterschiedliche Weise das, was nicht nur in Zeiten des Fachkräftemangels heiß begehrt sein sollte: eine ausgesprochen begehrte Ressource. In der Theorie jedenfalls.

Das System vertreibt seine Hoffnungsträgerinnen

Denn keine der Frauen an meinem Tisch befand sich noch in einem regulären Anstellungsverhältnis. Sie alle hatten ihren Arbeitgeber:innen den Rücken gekehrt und waren nun auf der Suche nach (Neu-)Orientierung. Sie hatten hingeworfen, wollten einfach nur raus. Raus aus dem Unternehmen, raus aus dem System. Einige der Frauen hatten sich bereits selbstständig gemacht, manche brauchten erst einmal eine längere Pause. Und so unterschiedlich die diesbezüglichen Entscheidungsgründe dieser Frauen auch gewesen sein mögen: Es ergibt sich ein Muster.

Ihnen allen war die Erschöpfung und die Frustration anzumerken, die das z. T. jahrzehntelange Sich-Behaupten in patriarchalen und hyperkapitalistischen Umgebungen (nicht nur, aber insbesondere) für Frauen nach wie vor mit sich bringt, allen Bekundungen aus den Veranstaltungen in Diversity Weeks und an International Women’s Days zum Trotz. Diese Frauen hatten es versucht, im System erfolgreich zu sein. Sie hatten gekämpft, sich angepasst, Kompromisse geschlossen, gelitten. Bis es eben nicht mehr ging.

Dieses Muster setzt sich, kaum überraschend, auch in den allerhöchsten Führungsebenen in Wirtschaft und Politik fort. Youtube-CEO Susan Wojcicki, die Chief Business Officer von Meta, Marne Levine, Nicola Sturgeon in Schottland oder die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern sind die jüngsten prominenten Beispiele von Frauen, die hingeworfen haben. Und so unterschiedlich die individuellen Gründe auch hier gewesen sein mögen: Diese Frauen gingen aus Gründen, deren Ursachen vor allem im System zu finden sind. Ein Blick in die deutsche Kommunalpolitik offenbart dasselbe Phänomen: kaum Bürgermeisterinnen, statt dessen „Old Boys‘ Networks“ und Rahmenbedingungen, die von Dauerpräsenz und Terminhetze geprägt sind.

Durchhalten als Strategie?

Und dennoch rufen wir all den Frauen noch immer zu, sie sollten sich doch endlich trauen, sich anstrengen, Verantwortung und Führung übernehmen, sich anpassen, Organisationen von innen verändern helfen oder gar „ihren Mann stehen“. Und wir bringen ihnen nach wie vor bei, wie sie sich zu kleiden, wie sie zu sprechen oder wie sie sich hinstellen sollen, damit wir sie akzeptieren. Spinnen wir eigentlich?

Sind unsere Durchhalteparolen vielleicht eine Art zynischer Selbstschutz? Verhalten wir uns so, gerade weil wir wissen, wie es in vielen Unternehmen, Parteien oder Wissenschaftseinrichtungen aussieht? Indem wir suggerieren, Frauen könnten alles erreichen, kehren wir die Verantwortlichkeiten um. Denn wer es dann nicht „schafft“, die hat sich vielleicht nicht gut genug angestrengt?

Spätestens an dieser Stelle muss es einmal mehr heißen: „Stop fixing women, fix the system.“ Zuallererst sollten wir damit aufhören, Appelle zum Durchhalten oder Durchbeißen als „Empowerment“ zu framen. Denn heute bestärken und ermutigen wir Frauen meist dahingehend, dass wir ihnen dabei helfen, sich durchzukämpfen, Dinge auszuhalten, es nicht so schwer zu nehmen.

„Frauen lehnen angebotene Führungspositionen deshalb häufig ab, weil sie die Auswirkungen der für sie nachteiligen systemischen Rahmenbedingungen ganz genau kennen.“

Denjenigen an der Spitze der Hierarchien kann das nur recht sein. Sie müssen sich nicht verändern, vielmehr bekommen sie auch noch die ebenso praktische wie eindimensionale Story serviert, nach der sie selbst ja offen seien für mehr Frauen Macht- und Führungspositionen. Wenn diese solche Angebote und Positionen ablehnten, liege es eben an deren mangelnder Ambition. Wir nennen unsere Angebote allen Ernstes „Chancen“.

Wie absurd dieses Narrativ ist, zeigt sich, wenn man genauer hinsieht. Denn das genaue Gegenteil ist richtig: Frauen lehnen angebotene Führungspositionen vor allem deshalb häufig ab, weil sie die Auswirkungen der für sie nachteiligen systemischen Rahmenbedingungen ganz genau kennen. (Dass sie überhaupt eine Wahl haben, privilegiert diese Frauen ironischerweise sogar, aber anderes Thema.)

Mindestens zwei Gründe für einen „Nein“

Bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine angebotene Führungsposition sind Frauen mindestens zwei Zusammenhänge schmerzlich bewusst. Erstens: ihre Mental Load und deren Hauptursache. Unter Mental Load versteht man die Belastung, die durch eine Vielzahl an Aufgaben (sog. „Micro-Tasks“) rund um Sorgearbeit entsteht; das also, was insbesondere Mütter nachts wachliegen lässt, wenn wieder einmal die unendliche ToDo-Liste im Kopf kreist. Nicht etwa, weil Mütter Care-Arbeit leisten sollten, sondern weil sie es heute noch de facto überwiegend tun.

Laut zweitem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung liegt die durchschnittliche Gender Care Gap bei 52,4 Prozent. In Haushalten mit Kindern beträgt die Lücke 83,3 Prozent: Jede Mutter in Deutschland leistet im Durchschnitt also zweieinhalb Stunden mehr Care-Arbeit pro Tag als jeder durchschnittliche Mann. Und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich Montagmorgens voller Tatentrang und im Besitz von 100 Prozent ihrer Energie an ihr erwerbsarbeitsbezogenes Wochenpensum setzen kann, äußerst gering.

Doch damit nicht genug. Selbst wenn sich eine Frau und Mutter einen Führungsjob tatsächlich zumuten möchte, dann wartet immer noch das nächste Hindernis in Gestalt doppelter Standards: Sie muss in ihrem dann neuen Verantwortungsbereich i. d. R. besser performen als jedes ihrer männlichen Pendants. Sie muss permanent aufs Neue beweisen, dass sie ihre Position verdient hat und dass sie der Aufgabe gewachsen ist. Noch dazu wird sie auch noch stellvertretend für die Gruppe aller Frauen wahrgenommen, „Tokenism“ lautet der Fachbegriff für eine solche Zuschreibung.

Wundert es uns also, wenn Frauen häufiger abwehrend reagieren, wenn wir ihnen die immer gleichen Positionen anbieten, die bis heute ganz selbstverständlich von oft weißen, heterosexuellen cis Männern besetzt sind? Wenn wir wirklich wollen, dass Vielfalt in alle Bereiche vordringen kann, dann müssen wir die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen – und schaffen wollen. Dazu gehört eine völlige Neuverhandlung darüber, wie wir zusammen leben und arbeiten wollen. Mehr desselben ist auch bei der Konstruktion von Rollen und Verantwortlichkeiten kein zielführendes Prinzip.

Für Frauen scheint die Latte geradezu erschreckend niedrig zu hängen, jedenfalls wenn es um die Erwartungshaltung an eine ihnen entsprechende Organisationskultur geht. So äußerte sich eine Mitarbeiterin eines IT-Unternehmens mir gegenüber wie folgt: „Ich bin hier im Unternehmen binnen eines Dreivierteljahres noch nicht völlig desillusioniert worden. Das habe ich bisher in meiner Karriere noch nicht erlebt.“ Sie meinte das durchaus positiv, aber es zeigt zugleich, wo wir z. T. noch stehen.

4 Gedanken zu “Was, wenn die Frauen gar nicht (mehr) wollen?

  1. Danke für diesen klugen Artikel!
    Kenne viele Top-Frauen Ende 30, Anfang 40, die gerade ganz ganz viel hinterfragen…und sich in den meisten Fällen selbstständig machen, was ich einen krassen Verlust finde.

    Die Sozialisation der nachfolgenden Generationen gefällt mir da echt sehr viel besser. Was viele als „ich, ich, ich“ abtun wollen, ist aus meiner Sicht auch das Aufbegehren gegen Verhältnisse, die die GenY & Millenials (hallo, husthust) selbstverständlich so hingenommen hat. Gerade die Frauen, die jetzt in Führungspositionen sind und z. T. Babyboomer-Gen abgelöst haben oder noch mit diesen Zusammenarbeiten müssen, brechen oft unter diesem Scherbenhaufen zusammen.

    Die eigenen Ansprüche durchzusetzen, Innovation zu treiben und eine „andere“ Art der Führung zu etablieren vs. ein System, dass das gerne für sich beansprucht, aber in letzter Konsequenz nichts verändern will…ganz krasse Gemengelage momentan. Bin sehr gespannt, was da noch passieren wird.

  2. Ich sehe einfach nur ein Thema, und das lautet: Kapitalismus. Und das gilt für alle Geschlechter, Identitäten und Lebensentwürfe. Kapitalismus heißt „Empathy creates poverty“. Der Mensch, der versucht in diesem System menschlich zu bleiben, wird ausgebrannt. Und ist ersetzbar. So lange diese Rahmenbedingung existiert, bleiben alle Appelle im Artikel weiterhin Appelle.

  3. Pingback: Warum "Schuld, Scham und Schande" bei Diversity Themen nichts bringt und ich für mehr Bewusstsein bin. - Iris Wangermann

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