Alles ist möglich? Vereinbarkeitslüge, Feminismus und Fortschritt

Oft dauert es eine Weile, bis fundamentale Erkenntnisse und Entwicklungen in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit rücken. Und auch in Zeiten von tagesaktuellen, digitalen Publikationen sind es häufig noch Bücher, die für eine kollektive Bewusstwerdung jenseits einschlägiger Blogs und Diskussionsgruppen sorgen.

In meinem Bücherregal stand seit vielen Monaten ungelesen: „Die Alles ist möglich-Lüge – wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind.“ Und obwohl bereits der Titel einiges an Zustimmung in mir auslöste, habe ich mich doch nicht dazu durchgerungen das Buch zu lesen. Erst als die beiden Autorinnen, Susanne Garsoffky und Britta Sembach, in einem weiteren Werk zitiert wurden, habe ich den Zugang zur Lektüre gefunden.

Das andere Buch, von dem ich spreche, ist ganz neu und heißt „Geht alles gar nicht. Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können.“ Es stammt von zwei Vätern: den ZEIT-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing. Warum ich deren Buch verschlungen habe, während ein zweites, vom Thema nahezu identisches sich bereits in meinem Besitz befand, hat einen einfachen Grund: Die beiden Autoren waren zu Gast bei Deutschlandradio Kultur und ich war von ihren Aussagen so fasziniert, dass ich mir umgehend das Buch kaufte und an einem Wochenende durchlas.

Und plötzlich geht es Schlag auf Schlag, meine Timelines bei Facebook und Twitter fördern immer neue lesenswerte Blogposts und Artikel zum Thema zu Tage. Nächstes Buch auf meiner Leseliste: „Unsagbare Dinge“ von Laurie Penny. Die Autorin, Bloggerin und Feministin verwendet einen etwas subtileren Titel als die eingangs erwähnten Autor_innen-Duos – und liefert so ein wichtiges Indiz dafür, weshalb es so lange gedauert hat, bis das Thema der genannten Bücher Eingang ins kollektive Bewusstsein finden konnte.

Spätestens seit Sheryl Sandbergs Buch „Lean in. Frauen und der Wille zum Erfolg“ galt es nämlich nahezu als Frevel, wenn sich unter all diejenigen, die Sandbergs Credo zum Schlachtruf eines modernen Feminismus erkoren hatten, vereinzelte Stimmen mischten, die ganz vorsichtig hinterfragten, ob dieses „Reinhängen“ denn tatsächlich berücksichtigt, ob sich alle Teilnehmer am modernen Frauen- und Familienleben halbwegs wohlfühlen können.

Schnell stand man in der Ecke der Reaktionären, der Konservativen und ewig Gestrigen. Man wolle die Frauen zurück in die 1950er Jahre zwingen, habe zu viel „Mad Men“ im TV gesehen oder sei im Grunde von anti-feministischer Prägung. Dabei ging es doch einfach nur darum, dass man die Perspektive auf ein Dilemma der Gegenwart wieder für alle Beteiligten zurechtrückt: Frauen, Männer und Kinder.

Dies gelingt sowohl Garsoffky und Sembach, als auch Brost und Wefing. Sie zeigen auf, unter welch immensem Druck Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familien und allein Erziehende, Kindergarten- und Schulkinder in einer Gesellschaft stehen, die das neoliberale Leistungsprinzip zum alleinigen Betriebssystem erkoren hat.

Dies schlägt sich auch in den Timelines der Social Media nieder. Selbst-Optimierung scheint das Prinzip der Stunde. Statt Entschleunigung in Lebens- und Arbeitswelten, die den Bedürfnissen von Frauen, Männern, Kindern und Familien entsprechen, wird das Letzte aus dem Individuum herausgeholt: weniger Schlaf, schnelleres Lesen, optimaleres Planen. All das muss letztendlich zum Kollaps einer Leistungs(!)gesellschaft führen, die sich selbst überfordert und überfordern lässt.

Es wird also Zeit für neue, andere Bücher. Ein paar Titelwünsche hätte ich schon. Wie wäre es z.B. mit „Lean back. Frauen und die Entspannung im Erfolg“ oder „Mit Entschleunigung und Maß: zwölf Strategien glücklicher Familien.“?

Brost und Wefing schreiben in „Geht alles gar nicht“ von „gehetzten Menschen in der Lebensmitte.“ Sie benennen viele Gründe für die Unvereinbarkeit von Kindern, Beruf und Liebe. Sie zitieren den Berliner Familienforscher Hans Bertram, der von der „überforderten Generation“ spricht: Globalisierung, Digitalisierung vor dem Hintergrund der Gleichberechtigung – all dies vereinbaren zu wollen sei zum Scheitern verurteilt. Wir seien eine „Gesellschaft auf Speed“, allen Gegentendenzen zum Trotz.

Und etwas weiter im (wirklich empfehlenswerten) Buch kommt es dann zur Kernforderung: „Wir denken, dass es an der Zeit wäre, dass Frauen und Männer, Mütter und Väter, Feministinnen und Traditionalisten, Familienforscher und Politiker einander einmal in die Augen sehen und bekennen: Im Moment wissen wir alle nicht, wie es gehen soll.“

Und genau das denke ich auch.

3 Gedanken zu “Alles ist möglich? Vereinbarkeitslüge, Feminismus und Fortschritt

  1. Pingback: “Geht alles gar nicht!” Zwei müde Väter zur Vereinbarkeit | InKladde

  2. Als zumindest zeitweise ausgewanderte in Belgien habe ich festgestellt, dass diese Frage ausgesprochen Deutsch ist. Hier arbeiten fast alle Eltern Vollzeit, und ein großer Teil davon mit 3 Kindern. Es ist keine Schande sich den Alltag durch eine Putzhilfe zu erleichtern, welche staatlich gefördert wird. Ansonsten ist das Familienleben allein schon deshalb entspannter weil jedem und jeder zugetraut wird, die Familie selbst zu managen: Kinderbetreuung für Kinder unter 1 Jahr ist normal, wenn auch teuer, und keiner fragt mich (oder meinen Mann) wie ich das mache, ob ich mich schlecht fühle, meine Kinder da nicht leiden etc. Das alleine entspannt die gesamte Lage so sehr dass ich mir nicht vorstellen kann, zurück nach D zu gehen solange die Kinder noch nicht über das Grundschulalter hinaus sind. Ich liebe meine Arbeit und meine Kinder und habe keinen Bock darauf mir mein Leben schlecht reden zu lassen

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