
Fachkräfte sind Mangelware (Foto von Daan Stevens bei Unsplash.com)
Allerorten wird derzeit das Wort vom Fachkräftemangel kolportiert. Ganze Industrien stünden auf dem Spiel, weil ihnen fehlender Nachwuchs prognostiziert wird. Der „war for talents“ sei bereits in vollem Gange und werde sich aufgrund der vorhergesagten Bevölkerungsentwicklung noch weiter zuspitzen. Digitalisierung & Co. seien die Treiber einer Entwicklung hin zum Arbeitnehmer_innen-Markt. Zeit also ein wenig genauer hinzusehen.
In einigen Branchen sieht es in Sachen qualifizierte Kräfte in der Tat bereits heute reichlich düster aus. In der Altenpflege etwa dauere es laut Studie der Agentur für Arbeit durchschnittlich 167 Tage bis zur Stellenbesetzung. Besagte Studie trägt übrigens den wunderbaren Namen „Fachkräfteengpassanalyse“ und kann hier heruntergeladen werden. Auch andere Studien skizzieren mitunter recht bedrohliche Szenarien.
Prognos etwa hat für das Jahr 2030 eine Fachkräftelücke von etwa drei Millionen, für 2040 gar von rund 3,3 Millionen errechnet.“ Laut einer Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) findet knapp jeder dritte Betrieb nicht mehr genug Azubis für die freien Plätze. Trauriger Spitzenreiter sei das Gastgewerbe, in dem 61 Prozent der Ausbildungsplätze unbesetzt blieben (hier der Link zum Studien-Download).
Spätestens jetzt wäre ein klein wenig Skepsis angebracht. Denn die Branchen, die in den Untersuchungen zuvorderst genannt werden, sind in der Regel auch die Branchen, die für z.T. schlechte und/oder extreme Arbeitsbedingungen bekannt sind. Fehlende Fachkräfte haben hier deshalb vor allem eine Ursache: die fehlende Bereitschaft sich solchen Arbeitsbedingungen überhaupt noch stellen zu wollen. Und das wiederum wirft eine ganz andere Frage auf: warum heißt es eigentlich „der Fachkräftemangel“?
Müsste es nicht „die Fachkräftemangel heißen“? Vorausgesetzt allerdings, die/der geneigte Leser_in weiß noch, was eine Mangel ist. Oder vielmehr war. Meine Mutter hatte ein solches Gerät noch zu Hause stehen. Und ich als kleiner Steppke empfand größtes Vergnügen dabei, auf dem Schoß meiner Mutter sitzend, große Wäschestücke glätten zu helfen. Heute macht man das in der Regel nicht mehr mit der hauseigenen Wäschemangel, doch „in die Mangel nehmen“ erinnert etymologisch noch daran, dass früher nur ein geglättetes Bettlaken auch ein gutes Bettlaken war.
Die Wäschestücke wurden seinerzeit mit großem Druck zwischen heißen Walzen glatt gepresst. Das mag manchen Menschen aus o.g. Berufszweigen bekannt vorkommen. Man muss nur einmal eine Erzieherin, einen Altenpfleger oder eine Kellnerin fragen, wie es um ihre Energie oder Balance bestellt ist. Man würde vermutlich verständnisloses bis resigniertes Achselzucken ernten. Balance? Keine Zeit. Energie? Egal. Ich muss einfach zusehen, dass ich bei der Arbeit nicht untergehe.
Effizienzsteigerung und Prozessoptimierung haben auch und gerade in den prekären Branchen längst Einzug gehalten. Schlimmer noch: Sie haben viele der Zustände erst verursacht. Hinzu kommen Dokumentationszwang und weitere bürokratische Vehikel, die Anforderungen weit über den eigentlichen Fokus der Arbeit hinaus produzieren. Am Ende brennen die Arbeitnehmer_innen aus. Auf das System, das derlei Auswüchse zum Nachteil hunderttausender Menschen verursacht, blickt schon lange niemand mehr.
Fachkräfte sind im doppelten Wortsinne Mangelware. Sie werden in vielen Branchen und Industrien aus unterschiedlichen Gründen mehr und mehr zu einem sehr knappen Gut. Gleichzeitig lastet auf Ihnen ein enormer Druck. Ein System, das die Employability, also die Verantwortung für die Frage, ob und wie lange jemand am Arbeitsmarkt (noch) gefragt sein wird, gegen die Systemteilnehmenden selbst richtet, ist nicht nachhaltig. In diesem Fall ist der alarmistische Warnruf vom Fachkräftemangel lediglich ein weiterer Versuch der Manipulation: Das Individuum wird an seine Eigenverantwortung zur Systemkonformität erinnert.
In vielen Branchen ist es Kalkül, dass die Mitarbeitenden nach einer relativ kurzen Zeit ausbrennen. Genau darauf baut das System, hier betreibt es Wertschöpfung. Zeitgleich von Fachkräftemangel zu fabulieren, ist an dieser Stelle zynisch. Die Entfremdung ist dann in vollem Gange, wenn Menschen einerseits als bloße Ressourcen, auf der anderen Seite der Bilanz jedoch nur als Kostenfaktor verstanden werden.
Lydia Krüger hat das Thema Fachkräftemangel (der) zuletzt wunderbar dekonstruiert. Sie schrieb u.a.:
„Fachkräfte bestehen auf einem nicht unerheblichen Gehalt, fordern eine Einarbeitung, schrecken nicht vor Urlaub zurück, werden krank oder gar schwanger. Eine ganz üble Sorte trägt neue Ideen ins Unternehmen und bringt die ganze schöne Ordnung durcheinander. Solche Möchtegern-Revoluzzer kann niemand gebrauchen.“
Bei aller ironischen Beugung des F-Wortes liegt genau hier ein Schlüssel. Statt die Konzentration ausschließlich auf die Eignung von Fachkräften zu richten, sollten wir die Rahmenbedingungen überdenken, innerhalb derer Menschen tätig sind und Leistung bringen sollen. Dazu gehört auch eine neue Führungskultur. Wenn wir die Frage endlich beantworten, wie wir zukünftig leben und arbeiten wollen, ergeben sich ganz automatisch neue Antworten jenseits von Prozessen und Effizienz. Dafür stehen uns immer mehr techn(olog)ische Mittel zur Verfügung. Höchste Zeit also, dass wir den menschlichen Faktor in den Mittelpunkt rücken.