Was, wenn die Frauen gar nicht (mehr) wollen?

Vor schwarzem Hintergrund sieht man eine junge weiße Frau mit skeptischem Gesichtsausdruck, die ihren Kopf in ihre linke Hand stützt. Foto von Niklas Hamann bei Unsplash.com.
Foto von Niklas Hamann bei Unsplash.com

Einst saß ich bei einer Veranstaltung mit sechs Frauen an einem Tisch, darunter eine promovierte Abteilungsleiterin aus der Automotive-Industrie, eine Partnerin einer juristischen Großkanzlei, eine IT-Spezialistin in Führungsposition. Allesamt top ausgebildete Führungs- und Fachkräfte mit Erfahrung und Expertise. Jede dieser Frauen repräsentierte auf unterschiedliche Weise das, was nicht nur in Zeiten des Fachkräftemangels heiß begehrt sein sollte: eine ausgesprochen begehrte Ressource. In der Theorie jedenfalls.

Das System vertreibt seine Hoffnungsträgerinnen

Denn keine der Frauen an meinem Tisch befand sich noch in einem regulären Anstellungsverhältnis. Sie alle hatten ihren Arbeitgeber:innen den Rücken gekehrt und waren nun auf der Suche nach (Neu-)Orientierung. Sie hatten hingeworfen, wollten einfach nur raus. Raus aus dem Unternehmen, raus aus dem System. Einige der Frauen hatten sich bereits selbstständig gemacht, manche brauchten erst einmal eine längere Pause. Und so unterschiedlich die diesbezüglichen Entscheidungsgründe dieser Frauen auch gewesen sein mögen: Es ergibt sich ein Muster.

Ihnen allen war die Erschöpfung und die Frustration anzumerken, die das z. T. jahrzehntelange Sich-Behaupten in patriarchalen und hyperkapitalistischen Umgebungen (nicht nur, aber insbesondere) für Frauen nach wie vor mit sich bringt, allen Bekundungen aus den Veranstaltungen in Diversity Weeks und an International Women’s Days zum Trotz. Diese Frauen hatten es versucht, im System erfolgreich zu sein. Sie hatten gekämpft, sich angepasst, Kompromisse geschlossen, gelitten. Bis es eben nicht mehr ging.

Dieses Muster setzt sich, kaum überraschend, auch in den allerhöchsten Führungsebenen in Wirtschaft und Politik fort. Youtube-CEO Susan Wojcicki, die Chief Business Officer von Meta, Marne Levine, Nicola Sturgeon in Schottland oder die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern sind die jüngsten prominenten Beispiele von Frauen, die hingeworfen haben. Und so unterschiedlich die individuellen Gründe auch hier gewesen sein mögen: Diese Frauen gingen aus Gründen, deren Ursachen vor allem im System zu finden sind. Ein Blick in die deutsche Kommunalpolitik offenbart dasselbe Phänomen: kaum Bürgermeisterinnen, statt dessen „Old Boys‘ Networks“ und Rahmenbedingungen, die von Dauerpräsenz und Terminhetze geprägt sind.

Durchhalten als Strategie?

Und dennoch rufen wir all den Frauen noch immer zu, sie sollten sich doch endlich trauen, sich anstrengen, Verantwortung und Führung übernehmen, sich anpassen, Organisationen von innen verändern helfen oder gar „ihren Mann stehen“. Und wir bringen ihnen nach wie vor bei, wie sie sich zu kleiden, wie sie zu sprechen oder wie sie sich hinstellen sollen, damit wir sie akzeptieren. Spinnen wir eigentlich?

Sind unsere Durchhalteparolen vielleicht eine Art zynischer Selbstschutz? Verhalten wir uns so, gerade weil wir wissen, wie es in vielen Unternehmen, Parteien oder Wissenschaftseinrichtungen aussieht? Indem wir suggerieren, Frauen könnten alles erreichen, kehren wir die Verantwortlichkeiten um. Denn wer es dann nicht „schafft“, die hat sich vielleicht nicht gut genug angestrengt?

Spätestens an dieser Stelle muss es einmal mehr heißen: „Stop fixing women, fix the system.“ Zuallererst sollten wir damit aufhören, Appelle zum Durchhalten oder Durchbeißen als „Empowerment“ zu framen. Denn heute bestärken und ermutigen wir Frauen meist dahingehend, dass wir ihnen dabei helfen, sich durchzukämpfen, Dinge auszuhalten, es nicht so schwer zu nehmen.

„Frauen lehnen angebotene Führungspositionen deshalb häufig ab, weil sie die Auswirkungen der für sie nachteiligen systemischen Rahmenbedingungen ganz genau kennen.“

Denjenigen an der Spitze der Hierarchien kann das nur recht sein. Sie müssen sich nicht verändern, vielmehr bekommen sie auch noch die ebenso praktische wie eindimensionale Story serviert, nach der sie selbst ja offen seien für mehr Frauen Macht- und Führungspositionen. Wenn diese solche Angebote und Positionen ablehnten, liege es eben an deren mangelnder Ambition. Wir nennen unsere Angebote allen Ernstes „Chancen“.

Wie absurd dieses Narrativ ist, zeigt sich, wenn man genauer hinsieht. Denn das genaue Gegenteil ist richtig: Frauen lehnen angebotene Führungspositionen vor allem deshalb häufig ab, weil sie die Auswirkungen der für sie nachteiligen systemischen Rahmenbedingungen ganz genau kennen. (Dass sie überhaupt eine Wahl haben, privilegiert diese Frauen ironischerweise sogar, aber anderes Thema.)

Mindestens zwei Gründe für einen „Nein“

Bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine angebotene Führungsposition sind Frauen mindestens zwei Zusammenhänge schmerzlich bewusst. Erstens: ihre Mental Load und deren Hauptursache. Unter Mental Load versteht man die Belastung, die durch eine Vielzahl an Aufgaben (sog. „Micro-Tasks“) rund um Sorgearbeit entsteht; das also, was insbesondere Mütter nachts wachliegen lässt, wenn wieder einmal die unendliche ToDo-Liste im Kopf kreist. Nicht etwa, weil Mütter Care-Arbeit leisten sollten, sondern weil sie es heute noch de facto überwiegend tun.

Laut zweitem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung liegt die durchschnittliche Gender Care Gap bei 52,4 Prozent. In Haushalten mit Kindern beträgt die Lücke 83,3 Prozent: Jede Mutter in Deutschland leistet im Durchschnitt also zweieinhalb Stunden mehr Care-Arbeit pro Tag als jeder durchschnittliche Mann. Und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich Montagmorgens voller Tatentrang und im Besitz von 100 Prozent ihrer Energie an ihr erwerbsarbeitsbezogenes Wochenpensum setzen kann, äußerst gering.

Doch damit nicht genug. Selbst wenn sich eine Frau und Mutter einen Führungsjob tatsächlich zumuten möchte, dann wartet immer noch das nächste Hindernis in Gestalt doppelter Standards: Sie muss in ihrem dann neuen Verantwortungsbereich i. d. R. besser performen als jedes ihrer männlichen Pendants. Sie muss permanent aufs Neue beweisen, dass sie ihre Position verdient hat und dass sie der Aufgabe gewachsen ist. Noch dazu wird sie auch noch stellvertretend für die Gruppe aller Frauen wahrgenommen, „Tokenism“ lautet der Fachbegriff für eine solche Zuschreibung.

Wundert es uns also, wenn Frauen häufiger abwehrend reagieren, wenn wir ihnen die immer gleichen Positionen anbieten, die bis heute ganz selbstverständlich von oft weißen, heterosexuellen cis Männern besetzt sind? Wenn wir wirklich wollen, dass Vielfalt in alle Bereiche vordringen kann, dann müssen wir die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen – und schaffen wollen. Dazu gehört eine völlige Neuverhandlung darüber, wie wir zusammen leben und arbeiten wollen. Mehr desselben ist auch bei der Konstruktion von Rollen und Verantwortlichkeiten kein zielführendes Prinzip.

Für Frauen scheint die Latte geradezu erschreckend niedrig zu hängen, jedenfalls wenn es um die Erwartungshaltung an eine ihnen entsprechende Organisationskultur geht. So äußerte sich eine Mitarbeiterin eines IT-Unternehmens mir gegenüber wie folgt: „Ich bin hier im Unternehmen binnen eines Dreivierteljahres noch nicht völlig desillusioniert worden. Das habe ich bisher in meiner Karriere noch nicht erlebt.“ Sie meinte das durchaus positiv, aber es zeigt zugleich, wo wir z. T. noch stehen.

Desidentifikation in der Organisationsentwicklung

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, am Feministischen Salon der Frauenberatungsstelle Köln-Friesenplatz* im Bürgerzentrum Ehrenfeld in Köln teilzunehmen. Neben mir gab auch Prof. Dr. Susanne Völker, Professorin für Genderforschung und Soziologie, wissenschaftliche Leiterin der Einrichtung GeStiK – Gender Studies in Köln und des Masters Gender & Queer Studies an der Universität und der TH Köln, einen Impuls. Gemeinsam diskutierten wir anschließend mit den zahlreichen Gäst:innen, u. a. über Fragen von Männlichkeiten und Feminismus.

Viel zu selten schaffe ich es zu solchen Veranstaltungen. Aber jedes Mal lerne ich neue Perspektiven und Zusammenhänge kennen. Insbesondere die Erkenntnisse der Gender Studies helfen mir, neue Ansätze für meine Arbeit in der Beratung von Organisationen zu bekommen. Frau Prof. Dr. Völker sprach im Zusammenhang mit Geschlechteridentitäten von der Notwendigkeit der Desidentifikation. Sie wies darauf hin, dass wir uns Zuordnungen zu bestimmten Kategorien verweigern müssten, damit u. a. das Verlernen schädlicher Geschlechternormen eine weitgehende Transformation unserer Systeme ermöglichen kann.  Prof. Völker bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Judith Butler:

„Obwohl die politischen Diskurse, die die Identitätskategorien mobilisieren, dazu neigen, Identifikationen zugunsten eines politischen Ziels zu kultivieren, könnte es sein, dass die Nachhaltigkeit von Desidentifizierung für die Neuartikulierung der demokratischen Auseinandersetzung von ebenso entscheidender Bedeutung ist.“

(Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin-Verlag. S. 24. U. a. auch hier auf S. 16 zitiert.)

Ich ziehe daraus u. a. den Schluss, dass es ggf. müßig ist, bestimmte Konstruktionen von Männlichkeit transformieren zu wollen. Zum einen hätte das u. U. zur Folge, dass eine bestimmte Form vermeintlich neuer Männlichkeit selbst normativ wird (etwa Caring Masculinities). Zum anderen geht es vielleicht tatsächlich in erster Linie darum, sich bestimmten Kategorisierungen zu verweigern (Desidentifikation), um dadurch die Voraussetzung zu schaffen, Verhaltens- und Denkweisen, die als „männlich“ gelten, zu verlernen (Unlearning) und damit zu überwinden.

Im Gespräch mit Prof. Völker erhielt ich von ihr den Hinweis, dass Männer als „Akteure der Nicht-Männlichkeit“ am Feminismus beteiligt sein können. Es komme jedoch nicht auf sie, die Männer, an, wie Prof. Völker weiter ausführte:

[E]s geht eher um unwichtig werden. Sie sind die, die zuhören, sich selbst verändern und Positionen (Privilegien) räumen, die sich vom System „Männlicher Herrschaft“ [im Bourdieu’schen Sinne] entkoppeln müssen. Es geht darum, Männlichkeit als Privileg und Zentrierung zu verlernen.“

Übertragen auf den organisationalen Kontext bedeutet das für mich, dass die Bemühungen um die Abschaffung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse nicht nur nicht weit genug gehen, sondern z. T. auch ganz falsche Grundannahmen und damit Wirkrichtungen haben. So falsch es ist, einfach nur weiße cishet-Männer durch weiße cishet-Frauen in den Führungspositionen zu ersetzen oder zu ergänzen, so wenig zielführend ist der Versuch, Führung als Prinzip durch neue männliche oder weibliche Stile und Attribute aufzuladen. Statt dessen bräuchte es auch hier eine Desidentifikation: Führungskräfte müssen sich den normativen Kategorisierungsversuchen verweigern, um mittelfristig überhaupt Zugang zu neuen Repertoires an Denk- und Verhaltensweisen zu erlangen. Wie so etwas gelingen könnte, und in welche Narrative solche Vorgänge eingebettet werden können, wird mich künftig mit Sicherheit sehr beschäftigen.

Wenn ich heute über Männlichkeit im Zusammenhang mit Organisationsentwicklung (aber auch in anderen Umfeldern) spreche, dann zumeist in Verbindung mit bestimmten Rollen: Führung, Partnerschaft, Vaterrolle etc. Prof. Völker stellt eine ganz grundsätzliche Frage: „Ist Männlichkeit eine positive Kategorie?“ So sehr ich die potenziellen Reaktanzen auf eine solche Fragestellung antizipiere, so reizvoll finde ich einen solchen Diskursansatz. Denn er schafft Distanz zu all den Zuschreibungen rund um Männlichkeit, Leadership und Hierarchie. Und diese Distanz könnte endlich den Blick auf wesentliche systemische Zusammenhänge richten helfen, vor deren Hintergrund eine Neukonstruktion von Männlichkeiten jenseits aller Hegemonialität erst möglich wird.

*Danke an Gesine, Chiara und Gaby für die Organisation des Feministischen Salons und für die Einladung zum Austausch. Das Frauenberatungszentrum Köln-Friesenplatz freut sich immer über eine Unterstützung der wichtigen Arbeit in Form einer Spende.

Der Schlüssel zu Gleichberechtigung sind… Männer!

Foto von Jon Tyson (Quelle: unsplash.com)

Geschlechtergerechtigkeit ist ein Thema, mit dem wir uns in Deutschland offenbar besonders schwer tun. Im internationalen Vergleich schneiden wir alles andere als sehr gut ab. Laut Gender Equality Index des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) bleibt Deutschland mit einem Wert von 66,9 (100 bedeutet volle Gleichberechtigung) sogar hinter dem Durchschnitt in Europa zurück. Der EU-Gleichstellungsbericht zeigt die wichtigsten Entwicklungen der letzten zwölf Monate sowie Veränderungsprozesse seit 2010 auf und richtet den Fokus auf potenzielle Faktoren für den Fortschritt der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der EU.

Gender Equality Index 2019 (Quelle: statista)

Schlecht sieht es hierzulande etwa im Bereich der Lohngerechtigkeit aus: Der Gender Pay Gap, also die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern, liegt bei knapp 21 Prozent, wobei einige Menschen glauben, man könne diese Brutto-Lohnlücke auf einen Nettowert von unter fünf Prozent herunterrechnen. Sie verlieren dabei jedoch aus dem Blick, dass Lohndiskriminierung nicht weniger ungerecht ist, nur weil man einen Großteil der verantwortlichen Faktoren erklären oder herleiten kann. Das Gegenteil ist der Fall: Wer um die Faktoren weiß und nichts dagegen unternimmt, verhält sich explizit diskriminierend.

Lückenbüßer*innen

Andere Gender Gaps sind nicht minder dramatisch. Frauen leisten im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Care-Arbeit als Männer (Gender Care Gap), verdienen im Laufe eines Berufslebens gerade einmal die Hälfte eines durchschnittlichen männlichen Lebensarbeitseinkommens (Gender Lifetime Earnings Gap) und sehen sich schließlich durch die Gender Pension Gap häufig mit Altersarmut konfrontiert. Es ist höchste Zeit gegenzusteuern. Denn es sind in der weit überwiegenden Mehrzahl die Frauen, die für all diese Lücken büßen müssen. 

Gender Pension Gap (Quelle: WSI)

Dabei steht die Wirtschaft vor besonderen Herausforderungen. Lange Zeit appellierte v. a. die Politik an die Unternehmen, endlich dafür zu sorgen, dass Gleichberechtigung auch in die Führungsetagen Einzug hält. Mit dem „Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG)“ brachte die Bundesregierung Mitte 2015 eine verbindliche Quote für Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen auf den Weg. Außerdem sah das Gesetz eine Zielgrößenverpflichtung vor, nach der sich Unternehmen, die börsennotiert oder mitbestimmungspflichtig sind, Zielgrößen zur Erhöhung des Frauenanteils für ihre Aufsichtsräte, Vorstände und obersten Management-Ebenen geben. Doch gerade Letzteres erwies sich in der Folge als kaum wirksam.

Denn viele Unternehmen machen einfach weiter wie bisher. Sie nehmen ihre sog. gläsernen Decken und ihre „leaky pipelines“ (also Hierarchien, in denen der Frauenanteil proportional zur Karrierestufe abnimmt) mehr oder weniger stoisch zur Kenntnis. Als seien diese Phänomene Naturgesetze, und nicht etwa das Ergebnis struktureller Ungerechtigkeiten und systemischer Fehlkonfigurationen. Wenn börsennotierte Unternehmen vor diesem Hintergrund sich weiterhin eine „Zielquote null“ geben, erscheint dies vor dem Hintergrund der Gleichberechtigungs-Debatten nurmehr zynisch. Die Politik hat bereits angekündigt zu reagieren.

Doch es liegt nicht nur an zu unverbindlichen politischen Rahmenbedingungen. Unternehmensverantwortliche – und das sind nun einmal in der überwiegenden Mehrzahl Männer – haben sich auch daran gewöhnt, die Themen Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit zu delegieren und zu institutionalisieren. Das bedeutet, sie berufen Gleichstellungs- und/oder Diversity-Beauftragte, kümmern sich i. d. R. aber nicht selbst um die Details. 

Haltung = Chefsache

Doch es sind gerade diese Details, in denen das Potenzial zur Lösung steckt. Als Mann muss ich mich mit meiner Rolle und Verantwortung im Bereich Diversity & Inclusion (D&I) auseinandersetzen, andernfalls ändert sich wenig bis nichts. Und diese Verantwortung kann nicht delegiert werden, weder an Abteilungen, noch an Personen. Wenn die richtige Haltung der Verantwortlichen fehlt, ist jede Maßnahme obsolet. Anders ausgedrückt: Haltung ist Chefsache.

Es fehlt in diesem Bereich noch an „Agency“. Dieses Wort ist mit „Wirksamkeit“ oder „Handeln“ leider nur unzureichend zu übersetzen. Gemeint ist damit, dass diejenigen, die Entscheidungsmacht in Organisationen besitzen, auch in Verantwortung für die genannten Themen gehen müssen. Verantwortung bedeutet: Sie müssen diese Themen zu ihren Themen machen.

Männer haben in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle inne. Warum ausgerechnet die Männer? Weil sie das System verändern können: durch die Reflexion ihrer Haltung, durch das Hinterfragen ihres Verhaltens, durch konkrete Entscheidungen aus Machtpositionen heraus. Auch, weil Männer endlich Macht abgeben müssen, damit Macht gerechter verteilt werden kann. Dafür benötigen wir eine ehrliche Auseinandersetzung mit unseren Prägungen, unserer Sozialisation als Männer und mit unseren zahlreichen blinden Flecken und „biases“.

Es ist menschlich, dass wir auf Basis der verschiedensten Biases denken und handeln. Es ist menschlich, dass wir Stereotypen und Vorurteilen unterliegen. Es ist menschlich, dass wir gelegentlich sexistisch, rassistisch oder klassistisch denken und handeln. Unmenschlich wäre es hingegen, wenn wir nicht alles daran setzten, hier viel besser zu werden. Leider helfen punktuelle Anti-Bias-Trainings oder ähnliche Interventionen nicht, z. T. sind sie sogar kontraproduktiv. Derlei Maßnahmen müssen eingebettet sein in die kulturelle Transformation unserer Organisationen. Und das ist harte Arbeit, die viele zu scheuen scheinen.

Stop Fixing Women!

Bislang galt die Aufmerksamkeit zudem fast ausschließlich den Frauen. Bei ihnen hatte man vermeintliche Defizite ausgemacht. Mentoring-Programme, Verhaltens- und Kommunikations-Schulungen und zahlreiche andere Maßnahmen zielten und zielen darauf ab, Frauen ein ganz bestimmtes Verhalten anzutrainieren. Ihnen also beizubringen, wie sie bestmöglich ins System passen. Doch eine solche Vorgehensweise hemmt die dringend notwendige Hinterfragung des Systems und nährt zudem zwei gefährliche Narrative: dass Frauen es angeblich (noch) nicht können; und dass Frauen, die für bestimmte Führungspositionen auserkoren wurden, eine solche Beförderung jedoch ablehnten, schlicht nicht wollen würden. Beides sind verzerrte Wahrnehmungen, die von strukturellen Problemen ablenken.

„Inclusion“ zielt ja darauf ab, die Rahmenbedingungen in Systemen (wie etwa Unternehmen) so zu verändern, dass möglichst alle Menschen ohne allzu großen Anpassungsaufwand ihren Teil zu Erfolg und Innovation beitragen können. Anders ausgedrückt: Es geht um gerechte und gleichberechtigte Teilhabe. „Fixing women“, also das Passend-Machen von Frauen, ist das genaue Gegenteil: Es schafft jedes erdenkliche Schlupfloch für unsere Systeme und deren Protagonisten(!), dass alles beim Alten bleiben kann. Doch das wäre angesichts der Transformations-Aufgaben, die vor Wirtschaft, Politik und Gesellschaft liegen, fatal. Diversity ist eine Bewältigungsstrategie im Zusammenhang mit VUCA, kein nice-to-have.

Es geht darum bald hoffentlich endlich nicht mehr darum, Frauen beizubringen, wie das mit den Führungsaufgaben funktioniert. Denn dass Frauen dafür mindestens ebenso gut geeignet sind wie Männer, dürfte sich langsam auch bis in die letzte monokulturelle Enklave herumgesprochen haben. Statt dessen haben wir endlich die Chance, den Veränderungsfokus auf das System zu richten. Und das System ist nun einmal für Männer gebaut, von Männern gestaltet und durch Männer beeinflussbar. Daraus erwächst große Verantwortung. Männer haben die Wahl: Sie können Teil der Lösung werden, oder sie bleiben automatisch Teil des Problems.

Nachhaltige Unternehmensverantwortung

Für Unternehmen bedeutet das ein großes Umdenken. Denn die Zeiten, in denen Erwerbsarbeit unhinterfragt und quasi monolithisch im Zentrum eines Arbeitnehmer*innen-Lebens stehen durfte, neigen sich langsam ihrem Ende. Während es bislang die individuelle Aufgabe jeder und jedes Einzelnen war, Vereinbarkeit herzustellen, also dafür zu sorgen, dass beispielsweise Erwerbs- und Care-Arbeit überhaupt parallel funktionieren können, wird dies zunehmend zu einer Herausforderung für Arbeitgeber – jedenfalls in höherqualifizierten Berufen und Branchen. Unternehmen müssen sich daran gewöhnen, dass sie Aspekte jenseits des Erwerbsarbeits-Kontexts in ihren Verantwortungsbereich einbeziehen. Kurz: Sie müssen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stärker gerecht werden. Und das heißt eben auch, dabei mitzuhelfen, dass Männer weniger Erwerbs- und mehr Care-Arbeit leisten. 

Damit verbunden ist die Überwindung vorwiegend männlicher Hyperinklusion, also die Befreiung aus der ausschließlichen Einbindung in Erwerbsarbeitskontexte zu Lasten anderer Lebensbereiche, hier v. a. Care-Arbeit. Wenn Männer erkennen, dass sie nicht nur kürzer treten sollen und können, sondern dass damit eine große Bereicherung der eigenen Lebenserfahrung einhergeht, dann öffnen sich gleichzeitig Möglichkeiten für weibliche Karrieren sowie die Chance auf eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit. Letzteres ist nicht nur aus Sicht einer feministischen Ökonomie eine Kernaufgabe unserer Zeit.

Care-Maschinen für die Mental Load

Denn es stimmt, was Sabine Rennefanz in ihrer Kolumne für die Berliner Zeitung kürzlich formulierte: „Der Sozialstaat westlicher Prägung funktionierte lange nur, weil Frauen kostenlos Arbeit verrichteten. Sie zogen Kinder groß, sie pflegten die Alten. Doch dazu sind Frauen immer weniger bereit, mit drastischen Folgen, die alle spüren.“ 

Frauen wollen schlicht nicht mehr länger die „Care-Maschine“ spielen, sondern in allen Bereichen des Lebens Chancen ergreifen. Sie sind es leid, Tag für Tag von ihrer „Mental Load“, also der nie endenden ToDo-Liste im Zusammenhang mit Care-Tätigkeiten, daran gehindert zu werden, etwa auch Karriere zu machen oder einfach nur Zeit für andere Dinge zu haben, als für Haushalt, Kinderbetreuung oder Erwerbsarbeit.

Von unentgeltlich geleisteter Care-Arbeit profitiert die Wirtschaft immens. So hat die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam in einer aktuellen Studie errechnet, dass Frauen und Mädchen weltweit jeden Tag mehr als zwölf Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit leisten. Würde man für diese Arbeit den Mindestlohn ansetzen, dann entspräche sie einem Gegenwert von über elf Billionen US-Dollar im Jahr. 

Männer im und am System

Wir müssen endlich unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf die Männer richten. Die schwedische AllBright-Stiftung beobachtet die Entwicklungen in Deutschland schon lange. Christian Berg, der die Stiftung in Deutschland zusammen mit Dr. Wiebke Ankersen leitet, nennt als einen wesentlichen Schlüssel für Arbeitsgeber, „Männer zu ermuntern, mehr Elternzeit zu nehmen, Kinder von der Kita abzuholen oder mit kranken Kindern zu Hause zu bleiben. Tut man das nicht, fördert man automatisch die Männer im Unternehmen auf Kosten der Frauen.“ Das sind bereits sehr konkrete Handlungsempfehlungen, die das Potenzial haben, mittelfristig organisationale und schließlich gesellschaftliche Normen zu verschieben.

Dass sich Normen zumindest verändern, lässt sich nicht zuletzt an den Investment-Entscheidungen der großen Player beobachten. Goldman Sachs etwa, in der Vergangenheit nicht gerade ein Vorzeigebeispiel für Fairness und Gerechtigkeit, wird zukünftig keine Börsengänge von Firmen mehr begleiten, deren Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräte „weiß und männlich“ sind. Ein kleiner Schritt, aber einer aus einer einflussreichen Nische. 

Für den Fall dass wir unsere Systeme in Bewegung bringen und beginnen, asymmetrische Geschlechterverhältnisse zu beseitigen, sollten wir uns übrigens einen dicken Knoten ins Taschentuch machen. Denn wir dürfen keinesfalls in die Falle tappen, lediglich Männer in einflussreichen Positionen durch Frauen zu ersetzen. Damit verbunden muss auch ein Hinterfragen unseres Wirtschaftens insgesamt sein. Ohne konstruktive und systemische Kapitalismuskritik bleibt der Ruf nach Geschlechtergerechtigkeit ein Lippenbekenntnis. 

„Der Kater der Vielfalt“ – Warum sich der Diversity-Diskurs emanzipieren sollte.

„In our work and in our living, we must recognize that difference is a reason for celebration and growth, rather than a reason for destruction.“

(Audre Lorde)

Seit einigen Jahren erlebe und verfolge ich verschiedene Diskurse zu Vielfalt aka Diversity. In diesen Diskursen habe ich überwiegend die Rolle des Lernenden inne, versuche aber auch, im ein oder anderen Kontext dabei zu helfen, Systeme weniger normativ und Rahmenbedingungen inklusiver zu gestalten.

Letzteres tue ich konkret als Berate(nde)r. Meine Kund*innen sind meist Organisationen in Veränderungsprozessen. Ich helfe dabei, den kulturellen Kontext eines Unternehmens und die Wechselwirkungen der Organisation besser zu verstehen. Ein Haupthindernis für Veränderung, Innovation, Transformation etc. ist häufig, dass nur auf die Bedürfnisse der Mehrheit der Arbeitnehmer*innen geblickt wird – wenn überhaupt.

Normativität

Eine Art Meta-Projektziel ist bei meiner Arbeit deshalb, dass Menschen sich nicht über die Maßen in Anpassung begeben müssen. Statt dessen sollen sie nach Möglichkeit über ausreichend Energie und psychologische Sicherheit verfügen können, um ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten.

Als nicht der Norm entsprechender Mensch1 muss man sich nämlich entweder anpassen oder schützen, und häufig sogar beides. Jeder Mensch benötigt ein Mindestmaß an Sicherheit. Diese Sicherheit muss sie*er permanent für sich gewährleistet wissen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Diejenigen Menschen, für die die Systeme mehr oder weniger maßgeschneidert wurden, brauchen über derlei Dinge i. d. R. nicht nachzudenken. Das ist ein enormes Privileg. Und das Bewusstsein von Privilegien ist ein entscheidender Schlüssel zu Veränderung.

Gleichzeitig schafft deren Abwesenheit systemimmanente Hindernisse für Nicht-Privilegierte. Würden wir unsere Systeme nämlich so gestalten, dass das menschliche Sicherheitsbedürfnis jederzeit für alle Menschen gewährleistet werden kann, würden wir sehr viele von der zusätzlichen Mental Load entlasten, die durch ein Übermaß an Anpassungszwang entsteht. Denn es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ich mich etwa am Arbeitsplatz unmittelbar in die Bewältigung meiner Aufgaben stürzen kann, oder ob ich mir zunächst überlegen muss, durch welche Stimmlage, welche Kleidung, welches Auftreten oder welchen Redeanteil ich eine möglichst hohe Akzeptanz in einer Gruppe finde oder wie ich mich vor Diskriminierung oder gegen Übergriffigkeit oder Nichtbeachtung schützen kann.

Fachkräftemangel, anyone?

Natürlich ist die Herstellung von für alle Menschen fairen Rahmenbedingungen ein hehres Ziel. Die Realität sieht in vielen Fällen leider recht düster aus. Monokulturen, kaum Perspektivenvielfalt und z. T. stark normative Umgebungen zwingen Menschen dazu, einen Großteil ihrer Energie dafür aufzuwenden, sich anzupassen. Das ist ein stets individuelles, aber natürlich auch ein gesamtgesellschaftliches (und nicht zuletzt volkswirtschaftliches) Drama. Denn genau hier geht ein derart hohes Maß an Effizienz verloren, dass man angesichts der Debatten um einen vermeintlichen Fachkräftemangel abwechselnd laut lachen und laut schreien möchte.

Frauen werden gerne als die größte noch nicht gehobene Ressource der Wirtschaft bezeichnet. Abgesehen davon, dass dies eine sehr technokratische und wenig empathische Zuschreibung ist, liegt darin tatsächlich ein Schlüssel. Wenn wir es schaffen würden, Frauen den Zugang zu höherer Erwerbsquote und gut bezahlten Positionen zu ermöglichen, bräuchten wir uns nicht mehr über mangelnde Fachkräfte beschweren. Statt dessen jedoch erklären wir Kinderwunsch und Elternzeit zu unternehmerischen Risiken, faseln von Teilzeitfallen und schwierigem Wiedereinstieg, tolerieren stillschweigend eine (in Deutschland exorbitant hohe) „Child Penalty“ und beäugen Frauen in Top-Positionen mit unverhohlener sexistischer Skepsis: „Die benimmt sich ja wie ein Mann!“.

Gleichzeitig trägt jeder Versuch, mehr Frauen in Vollzeit-Arbeit und Führungspositionen zu bringen, angesichts einer riesigen Gender Care Gap einen Anteil daran, Frauen noch weiter zu belasten. Das kann nicht der Weg sein.

Diversity Management in der Sackgasse

Begleitend zu derlei Missständen lässt sich eine Entwicklung beobachten, die sich vordergründig der Behebung einiger dieser Probleme und systemimmanenten Hindernisse annimmt. Ich spreche von Diversity bzw. von Diversity Management. Längst hat sich herumgesprochen, dass der sog. Business Case für Diversity wohl recht positiv ausfällt.

Es gibt viele Studien und Untersuchungen zu den Effekten von Vielfalt auf die sog. „bottom line“, also auf Umsatz und Ertrag von Unternehmen. In der Regel sind diese Effekte sehr positiv. Das führt langsam, aber sicher dazu, dass Investor*innen und Shareholder*innen Druck auf die Unternehmensführungen ausüben, damit diese sich für mehr Vielfalt in ihren Organisationen einsetzen. „D&I“ wird also zunehmend Teil der Strategieüberlegungen. Das „I“ steht dabei für „inclusion“ und meint im Wesentlichen die Rahmenbedingungen, unter denen sich Diversity möglichst gut entwickeln kann.

Doch bis zu diesem „I“ kommen die wenigsten Unternehmen. Sie scheitern bereits im Ansatz, weil sie nach wie vor das Ziel ausrufen, beispielsweise einfach nur mehr Frauen (und andere, nicht der üblichen Norm entsprechende Menschen) in die Unternehmen holen zu wollen. Wie diese Menschen dann in den jeweiligen Umgebungen klar kommen, interessiert an dieser Stelle zumeist nicht. Dabei wäre dies sogar das Wichtigste.

Denn Inclusion bedeutet, dass die Rahmenbedingungen neu gestaltet werden müssen, unter denen Menschen in Organisationen arbeiten. Das ist jedoch extrem aufwändig und langwierig, weil es die nachhaltige Veränderung menschlichen Verhaltens erfordert. Deshalb greifen die meisten lieber zu oberflächlichen Maßnahmen mit kurzfristigem (Show-)Effekt.

Feierlich werden Manifeste und Chartas, Selbstverpflichtungen und Siegel, Initiativen und Arbeitsgruppen präsentiert, mit denen sich alle der so guten Sache anschließen. Denn dass Diversity eine gute Sache ist, daran lässt kaum ein Vorstandsvorsitzender mehr einen Zweifel.

Das Thema wird sogleich institutionalisiert, eine Diversity-Beauftragte muss es mindestens sein. In der Regel ohne (großes) Team und/oder Budget, aber wir wollen doch erst einmal sehen, wie das Thema mit Bordmitteln zum Fliegen zu bringen ist.

Aber es fliegt eben nicht so recht.

Wirkungslose Maßnahmen

Es fliegt auch deshalb nicht, weil das Narrativ zu Diversity mindestens sehr naiv ist. Vielfalt wird größtenteils als etwas dargestellt, das es zu feiern gilt und mit dem sich gute PR und gutes Employer Branding machen lässt. Die Bilder rund um die entsprechenden Anlässe und Vorhaben ähneln sich lustigerweise sehr, obwohl es doch eigentlich um Unterschiedlichkeit geht. Es geht bunt zu, fröhlich, ausgelassen – vielfältig eben. Dabei gerät etwas aus dem Blickfeld, das in der Debatte unbedingt in den Fokus genommen werden müsste: Vielfalt macht (zunächst einmal) gar keinen Spaß. Im Gegenteil.

Also geht man den vermeintlich leichten Weg: durch Schulungen, Workshops, (sicherlich gut gemeinte) Absichtserklärungen und gegenseitiges virtuelles Schulterklopfen für das jeweilige Wirken. Das Problem ist nur, dass dieser Weg, außer weiteren bunten Bildern und euphorischen Augenzeug*innenberichten, wenig bewirkt. Denn Vielfalt ist wahnsinnig anstrengend. Bzw. ist es der Umgang mit Vielfalt, der anstrengend ist.

Stereotype und Biases, die dem Verhalten vieler Menschen und Organisationen zu Grunde liegen, sind durch die Neurowissenschaft inzwischen gut erforscht. Organisationen schleusen ihre Mitarbeitenden dennoch (oder vielleicht gerade deshalb?) zu Hunderttausenden durch Diversity und Unconscious Bias Trainings.

Der Erfolg solcher Maßnahmen ist mindestens umstritten. Neuere anthropologische Forschungen gehen davon aus, dass diese Trainings z. T. sogar kontraproduktiv sind. Sie setzen am falschen Ende der Problematik an und verkennen, wie komplex menschliches Verhalten ist. Dabei ist es eigentlich einleuchtend, dass Interventionen auf Workshop-Basis kaum das Zeug haben, menschliches Verhalten langfristig zu verändern. Trotzdem boomt die Branche, die solche Angebote macht.

Reaktiv oder progressiv?

Es gibt viele Menschen, die das naive Bild und den Umgang mit D&I ändern wollen, und die dem Thema Vielfalt endlich Relevanz und Wirksamkeit verleihen möchten. Doch sie sitzen noch viel zu häufig in den falschen Abteilungen. Das Thema ist Chef*innensache, wird aber in den meisten Fällen delegiert: an HR oder an (monetär wie personell) schlecht ausgestattete Stabsstellen o. Ä. Oft werden sogar firmeninterne Freiwilligen-Netzwerke mit der Arbeit an Diversity betraut, was angesichts der Bedeutung des Themas geradezu absurd anmutet und marginalisierte Gruppen quasi dazu zwingt, ihre eigene Marginalisierung und z. T. Diskriminierung durch freiwillige Mehrarbeit beheben zu helfen.

Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet vermutlich, ob ein Unternehmen lediglich die regulatorischen Anforderungen erfüllen möchte, wie sie etwa im Nachhaltigkeit-Berichtswesen verlangt werden, oder ob Diversity der Kern einer progressiven Agenda ist oder wenigstens werden soll. Dann muss das Thema aber auch dort verankert werden, wo Entscheidungs- und Gestaltungsmacht gegeben sind: in Geschäftsführungen und Vorständen.

Die Verankerung kognitiver wie realer Vielfalt muss als Wesensmerkmal und Katalysator der Organisationskultur verstanden werden. Allerdings gibt es bei der Arbeit an D&I ein eklatantes Missverständnis, das wiederum sehr viel mit den bunten Bildern und wohlformulierten Absichtserklärungen zu tun hat. Viele Menschen gehen davon aus, dass Diversity etwas ist, das Spaß macht und positiv in verschiedenen Bereiche der Organisation ausstrahlt: PR, Kommunikation, Employer Brand etc. Aber das ist die falsche Erwartungshaltung.

Eine der Grundwahrheiten beim Umgang mit Vielfalt lautet nämlich: „Diversity sucks!“ Auch wenn das überspitzt formuliert sein mag, es bringt eine elementare Erkenntnis über menschliches Verhalten in die Diskussion. Wir tun uns schwer mit Menschen, die nicht so sind, wie wir. Sehr schwer.

Allzu Menschliches

Es irritiert uns, wenn Menschen uns widersprechen, wenn sie sich anders verhalten als wir, sich anders ausdrücken oder anders aussehen. Evolutionär ist das erklärbar und war in früheren Entwicklungsstufen der Menschheit durchaus sehr sinnvoll. Denn „anders“ hieß in der Regel eben auch „gefährlich“. Doch was damals das Überleben sicherte, wird heute schnell zur Gefahr: die Skepsis gegenüber Unterschiedlichkeit. Wir brauchen in Zeiten fundamentaler Umwälzungen auf allen Ebenen eine Vielfalt unterschiedlichster Perspektiven. Und zwar um nichts Geringeres zu sichern, als das Überleben der Menschheit.

Ein paar Stufen unterhalb einer solch fundamentalen Herausforderung gibt es auch die eher alltäglichen Aufgaben für Führung und Management, die uns dennoch sehr viel Aufmerksamkeit und Energie abverlangen. Der Umgang mit Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen, die auf die Dinge, die wir für gewöhnlich anwenden, anders reagieren, als wir dies erwarten, kann sehr anstrengend und fordernd sein. Wenn aber Vielfalt ein so wichtiges Gut ist, dann werden derlei Herausforderungen erheblich zunehmen. Da liegt die Sehnsucht nach der guten, alten Homogenität nah. Doch diese Sehnsucht ist trügerisch.

Dr. Laura Wendt, Neurowissenschaftlerin und Beraterin bei A. T. Kearney, weist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hin, dass heterogene Teams zwar besser performen, dass sich die Zusammenarbeit jedoch mitunter schwierig gestalte. Die objektiv messbaren Resultate einer Team-Zusammenarbeit treten gegenüber dem Gefühl guter Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten in den Hintergrund. Ein anderes Zitat in diesem Zusammenhang benennt das Phänomen, dass Homogenität und Normativität sich nur für eine Gruppe gut anfühlen: für diejenigen, die dazugehören.

„[Homogeneity] can lead to a well-oiled machine of like-minded people and enjoyable working environment for those in the homogeneous group. And this may not be that bad of an alternative to those who belong already.“

Michelle Kim

Der Wunsch nach Homogenität ist menschlich, stellt aber gleichzeitig eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu Toleranz und Institutionalisierung von Vielfalt dar. Zu deren Überwindung muss Diversity hierarchisch mit Gestaltungsmacht und Durchsetzungswillen ausgestattet werden.

Emanzipation von Diversity

Diversity darf also kein Betätigungsfeld ausschließlich für Aktivist*innen, Diversity-Beauftragte oder Netzwerke bleiben, sondern muss sich zur entscheidenden Bewältigungsstrategie für die digitale und nachhaltige Transformation emanzipieren.

Wir müssen mit Selbstverständlichkeit und Fokus an unseren Systemen arbeiten. Dafür müssen aber auch alle verstehen, dass Strategie und Vielfalt sich nicht ausschließen, im Gegenteil: Sie sind auf den wesentlichen Ebenen miteinander verknüpft und bedingen sich somit gegenseitig. Diversity darf deshalb nicht in isolierten Silos operieren, sondern braucht Cross-Kollaboration und die Implementierung in alle relevanten Prozesse.

Und um effektiv an unseren Systemen arbeiten zu können, sollten wir aber auch damit aufhören, Diversity als eine Art „Corporate Social Rummelplatz“ zu inszenieren. Das wertet das Thema mittelfristig ab. Wir müssen statt dessen die strategischen Transformationsdebatten führen und Teil der wegweisenden Entscheidungen sein. Und wir müssen Vielfalt mit all den verbundenen Schwierigkeiten als Herausforderung annehmen.

Dabei dürfen wir es uns nicht zu leicht machen. Vor allem aber dürfen wir es den Unternehmen nicht zu leicht machen. Ein launiger Impuls eines Vorstandschefs im Rahmen eines bunten Diversity-Abendevents ist deshalb kein lobenswerter erster Schritt, sondern bereits das uninspirierte Ende sämtlicher Bemühungen um Vielfalt im Denken und Handeln einer Organisation. Wo es kein Commitment der Führungskräfte gibt, dort bleibt der Wunsch nach Diversity ein abstraktes Lippenbekenntnis.

Diversity ist kein Abzeichen für ein konformes und medienwirksames Mindset. Diversity ist das Mindset. Hier sollten sich alle Führungskräfte einmal überprüfen und klären, wie sie zu D&I stehen.

  • Spielt das Thema Vielfalt bei allen strategischen Entscheidungen eine zentrale Rolle?
  • Sind Teams und Arbeitnehmer*innen ausreichend sensibilisiert für die Bedeutung von Diversity?
  • Stehen Tools und Wissen für die nachhaltige Integration von Diversity in ausreichendem Maße zur Verfügung?
  • Finden möglichst alle Dimensionen von Diversity (Stichwort: Intersektionalität) Eingang in den Diskurs?
  • Sind alle Stakeholder*innen im Blick, wenn es um D&I-Strategien geht?
  • Sind Initiativen, Siegel und Veranstaltungen rund um Diversity in die Unternehmensstrategie integriert oder ist das Engagement an dieser Stelle am Ende mehr Show?
  • Sind wir bereit, den z. T. harten und schwierigen Weg zu gehen und unsere Unternehmenskultur so zu gestalten, dass Teilhabe und Leistungserbringung für alle Mitarbeiter*innen auf möglichst optimale Weise möglich sind?
  • Passen die Botschaften rund um D&I zur Realität im Unternehmen?
  • Ist das Thema Vielfalt elementarer Bestandteil der Agenda in Geschäftsführung und/oder Vorstand und gibt es hier klare persönliche Commitments?

Ehrliche Antworten auf derlei Fragen wären ein sehr guter Anfang für einen nachhaltigen Diversity-Ansatz. Und davon profitieren letztendlich alle – nicht nur die bottom line.

1 Ich selbst repräsentiere auf beinahe erschreckend vollständige Weise die „Norm“: männlich, cis, hetero, weiß, 45 u. v. m.   

Männer*, werdet Spülfeministen!

scott-umstattd-89611-unsplash

„I identify as… tired.“ (Hannah Gadsby)

tl;dr:

  • Für mehr Gleichberechtigung brauchen Frauen* mehr Freiräume.
  • Die Gender Care Gap (von durchschnittlich 52,4 %) ist ein wesentlicher Teil des Problems asymmetrischer Geschlechterverhältnisse: Frauen sind nach wie vor erste Anlaufstelle für das Thema Kind & Haushalt.
  • Männer* könnten Care-Arbeit zunächst einmal dadurch aufwerten, indem sie einen großen Teil davon selbst erledigen.
  • Care- und Erwerbsarbeit müssen gleichberechtigt nebeneinander stehen.
  • Mehr Männer in Care = mehr Chancengleichheit

In einem Blogbeitrag bei Mädchenmannschaft wurden vor etwa zweieinhalb Jahren „linke Mackertypen“ kritisiert, die sich unter dem Deckmantel der Feminismus-Unterstützung nach vorne drängen würden. Neben einer Typisierung männlicher Feministen lieferte die Autorin Nadia Shehadeh damals auch ein paar gute Ratschläge für Männer* mit:

„Sie können sich sinnvoll beteiligen, indem Sie feministische Arbeit durch Geldspenden, Care-Arbeit, Putzdienste und vor allem in den meisten Fällen durch eigene Unsichtbarmachung unterstützen.“

Was zunächst wie ein Affront gegen potenzielle und reale männliche Unterstützer des Feminismus klingen mag, trägt viel Wahrheit in sich: Männer können den Feminismus auch und vor allem dadurch flächendeckend unterstützen, indem sie Frauen* Freiräume schaffen. Den Abwasch zu machen kann ein guter Anfang sein. Man könnte hier also durchaus von einer Art „Spülfeminismus“ sprechen.

Mika Doe aka Mareike nennt in einem Artikel aus dem Vorjahr die Kehrseite der Medaille, wenn sie den „Spülsexismus“ beschreibt:

Eine geschlechtergemischte Gruppe von Personen unternimmt irgendeine Aktivität. Sie fahren in eine Ferienwohnung, machen eine Party, besetzen ein leerstehendes Haus oder planen den Umsturz des Systems. Wie auf magische Weise hat Stefanie einen Dip gemacht. Caroline wischt den Tisch ab. Jens dagegen sucht die richtigen Schrauben für die Barrikaden. Torben sitzt in der Ecke und liest Judith Butler.

Asymmetrische Verteilung von Pflichten

Womit wir in jedem Fall bei der Frage nach den größeren Hebeln für die Bereitstellung besagter Freiräume wären. Diese Hebel liegen, da sind sich inzwischen nicht wenige Menschen einig, unter der Ungleichverteilung der Reproduktions- bzw. Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern vergraben.

Auch und vor allem durch diese Ungleichverteilung entstehen weitere Lücken, wie etwa die Gender Pay Gap oder die Gender Pension Gap aka (i. d. R. weibliche) Altersarmut. Die grundsätzliche Asymmetrie zwischen Care- und Erwerbsarbeit bildet dabei lediglich die (ungerechte) Grundlage für ungleiche Teilhabe.

Die Gender Care Gap liegt laut zweitem Gleichstellungsbericht der Bundesregierung bei durchschnittlich 52,4 Prozent. Das bedeutet, dass Frauen in Deutschland im Durchschnitt 87 Minuten mehr Care-Arbeit leisten als Männer. Pro Tag, jeden Tag.

Sobald in einem Haushalt Kinder leben, steigt die Gender Care Gap auf durchschnittlich 83,3 Prozent. Im Alter von 34 leistet eine Frau zudem durchschnittlich fünf Stunden und 18 Minuten Care-Arbeit täglich, Männer hingegen nur zwei Stunden und 31 Minuten. Das ist eine Lücke von über 100 Prozent zwischen den Geschlechtern.

Anders formuliert: Die Frau ist nach wie vor eine Art Default-Option für das Thema Kinder und Haushalt.

Und genau hier liegt deshalb auch der Schlüssel zur Veränderung. Wenn wir es schaffen wollen asymmetrische Geschlechterverhältnisse zu beseitigen, dann kann das nur über eine deutlich höhere Beteiligung von Männern in den Bereichen Kinder, Haushalt, Familie etc. – kurz: Care – gehen.

Oder, anders formuliert: Männer* könnten Care-Arbeit zunächst einmal dadurch aufwerten, indem sie einen großen Teil davon selbst erledigen. So einfach wäre das.

Mental Load

Dabei geht es nicht nur um so sichtbare Tätigkeiten wie Müll raustragen, Schränke aufbauen oder das Auto in die Werkstatt bringen. Diese Dinge sind zu tun, keine Frage. Aber übrig bleiben hunderte anderer Sachen. Einzeln handelt es sich meist um Kleinigkeiten, in Summe jedoch ergeben sie einen mitunter kaum zu bewältigenden Wust an Aufgaben, an dem zumeist Frauen und Mütter nicht selten verzweifeln. Für die damit einhergehende Belastung hat sich der Begriff der Mental Load herausgebildet. Barbara Vorsamer schrieb dazu im SZ-Newsletter:

„In den meisten Familien, selbst bei denen, die sich die Arbeit selbst einigermaßen gerecht aufteilen, bleibt die Verantwortung an der Mutter hängen. Sie schreibt die Einkaufszettel und To-do-Listen und sie erinnert ihren Mann auch – unter Umständen mehrfach – an die noch zu erledigenden Aufgaben. Mental Load nennt man diese Denkarbeit, und sie ist anstrengend, ermüdend und unsichtbar.“

Patricia Cammarata hatte über das Thema Mental Load auf dem Female Future Force Day gesprochen und diesen Vortrag auch in ihrem Blog verarbeitet. Zu den Auswirkungen der Mental Load schreibt sie:

„Meine Lektion war: Energie ist endlich (hätte ich auch schon aus dem Physikunterricht wissen können). Energie ist eine Torte. Ich kann acht oder sechzehn Stücke rausschneiden, größer macht das die Torte nicht und am Ende ist die Torte weg. Für einen Job und ein Kind hat meine Energie leicht gereicht, für zwei auch noch, beim dritten war dann Schluss.“

Für was geht also die ganze Restenergie drauf?

Termine für U-Untersuchungen, neue Schuhe für die Tochter, Kuchen für den Kindergeburtstag, die Anmeldung zum Kletterkurs, die grundsätzliche Frage nach dem Wohnort zum Schuleintritt, der nächste Großelternbesuch, der eigene Job, der Hautausschlag des Sohnes, die kaputte Glühbirne im Flur, der Ablesedienst, das Päckchen für die Freundin in Bochum und und und… Bei genauerem Nachdenken fallen einem selbst spontan unzählige Dinge ein, die in Summe einen schier nicht zu bewältigenden Berg an ToDo’s verursachen.

Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach bringt es in einem Interview mit der Schweizer Tageswoche auf den Punkt:

„Frauen sind in der Regel diejenigen, die mit dem Gedanken einschlafen: «Morgen muss ich für die Kinder Hausschuhe kaufen.» Die daran denken, wann der nächste Test geschrieben wird oder der Arztbesuch ansteht, für welchen Kindergeburtstag es noch ein Geschenk braucht und so weiter. Diese Hauptzuständigkeit ist ein mentaler Stress, der zu Erschöpfungssyndromen führt. Väter sind oft ganz gute Assistenten, aber viele sind nicht bereit, wirklich ins Cockpit zu kommen.“

Männlicher Grassroots-Feminismus?

Und genau hier liegt also die Lösung. Eine männlich-feministische Grassroots-Bewegung müsste genau hier ihren Anfang nehmen: in der Verantwortlichkeit für mindestens 50 Prozent dieser Dinge. Ohne Aufforderung oder Vor-Organisation durch jemand anderen (i. d. R. die Partnerin), sondern in völliger pro-aktiver Eigenverantwortung.

Das wäre ein männlicher Beitrag zum Feminismus, der signifikante Folgen hätte. Denn durch die Entlastung zu Hause könnte sich Frauen verstärkt engagieren: im Feminismus, im Job, beim Lernen, in der persönlichen Weiterentwicklung, in Sachen Achtsamkeit und transformationaler Arbeit etc. All das würde wiederum auch Männern zugute kommen.

Unsere Wirtschaft und Gesellschaft würde unmittelbar davon profitieren, wenn Frauen ihre Zeit und Energie nicht zu einem Großteil im Care-Bereich einsetzen müssten bzw. wenn Männer einen signifikanten Teil dieser Aufgaben leisten würden. Aber wie kommen Männer da vielleicht hin?

Mir selbst (und ich bin vom Ideal einer 50/50-Aufteilung sicherlich weit entfernt) hat dabei sehr geholfen, dass ich für mich versuche Care- und Erwerbsarbeit, aber auch meinen Aktivismus, als gleichwertig zu verstehen und zu interpretieren. Das muss man immer wieder üben, aber die Einsicht eines Nebeneinanders dieser Tätigkeiten setzt sich dadurch auch bei mir immer mehr durch.

Ein Selbstläufer ist das aber nicht. Zu tief sitzen die Prägungen, nach denen nur das anerkannt wird, was auch Geld bringt. Dadurch entsteht nicht selten das Gefühl nichts Sinnvolles zu tu, wenn man einmal wieder Spülmaschinenreiniger im Drogeriemarkt kauft, statt vermeintlich „produktiv“ zu arbeiten.

Es macht für mich bei der eigenen Bewertung meiner Tätigkeit hoffentlich irgendwann kaum mehr einen Unterschied, ob ich einen Vortrag halte, eine Kundin berate, mich als Mentor betätige, die Toilette putze, die Windeln meines Sohnes wechsle, den Familieneinkauf erledige oder einen Blogbeitrag schreibe.

Natürlich wäge ich zwischen den genannten Tätigkeiten ab, wenn diese etwa zeitgleich anstehen. Aber ich spiele sie nicht mehr gegeneinander aus. Für mich ist das ein Fortschritt. 

So, und jetzt sollte ich die Wäsche zusammenlegen, die Küche putzen und meine Tasche für morgen packen. 

 

(Foto von Scott Umstattd bei Unsplash)

Männlich, beruflich erfolgreich, über 45? Dann bitte lesen. (Alle anderen natürlich auch.)

rawpixel-652551-unsplash

Foto von rawpixel bei Unsplash

Gerne möchte ich sie als geneigte/n Leser*in zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen. Es geht bei der gleich folgenden Fiktion um das Hinterfragen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten. Es handelt sich um eine Modellgeschichte, die mit Klischees und Stereotypen spielt. Vielleicht finden sie sich in der ein oder anderen Begebenheit wieder, vielleicht aber auch nicht. Das ist nicht entscheidend. Die Geschichte soll zum Nachdenken anregen. Sie soll niemanden angreifen.

Aber lesen sie selbst.

Nehmen wir einmal an, sie sind ein erfahrener Manager eines mittelgroßen Konzerns im Maschinenbausektor. Sie leiten dort ein Team aus Ingenieuren und Projektmanagern. Das Geschäft läuft trotz der sich immer schneller verändernden Rahmenbedingungen stabil bis gut. Sie sind seit fast 25 Jahren im Business und haben als „Alter Hase“ einiges an Erfahrung mit Veränderungsprozessen.

Ihre Frau ist Lehrerin und arbeitet, seit die Kinder in der Schule sind, wieder in Teilzeit. Sie wohnen am Stadtrand eines südwestdeutschen Mittelzentrums in einem Reiheneckhaus, das nur noch zu einem kleinen Teil der Bank gehört. Ihre Tochter ist 14, ihr Sohn elf Jahre alt. Beide gehen auf eines der örtlichen Gymnasien.

Für ihre Karriere mussten sie durchaus einige Opfer bringen. Es gab Zeiten, da haben sie ihre Familie nur spätabends oder am Wochenende gesehen. Und manchmal nicht einmal das. Aber das gehört zum Job eben dazu. Sie waren stets bereit sich auch auf solche Phasen einzulassen. Nicht selten sind sie abends der Letzte im Büro.

Eines Tages erzählt ihnen ihre Tochter beim gemeinsamen Abendessen am Küchentisch vom bevorstehenden Girls’ Day. Sie erinnern sich dunkel daran, was das ist. Ihre Tochter muss sich ein Unternehmen aussuchen, in dem sie einen Tag lang hospitieren kann. Ob sie nicht ihre Beziehungen spielen lassen könnten, dann brauche sie nicht mehr weitersuchen.

Natürlich wollen sie ihrer Tochter helfen. Ihr Sohn, das erfahren sie an diesem Abend zufällig auch, hat sich seinen Platz für den Boys’ Day selbst organisiert: Er hilft für einen Tag in einem Kindergarten bei ihnen im Stadtviertel aus. Sie fragten ihn daraufhin, ob er sich nicht lieber ein richtiges Business aus der Nähe ansehen wolle, zum Beispiel ihres, aber er blieb bei seiner Entscheidung.

Ein paar Tage später erinnert sie ihr Kalender daran, was sie ihrer Tochter versprochen haben. Sie bitten ihre Sekretärin sich einmal zu überlegen, wo im Unternehmen ein Platz für sie sein könnte. Mit den Vorschlägen sind sie zufrieden, einer ihrer Bereichsleiter kann sie unter seine Fittiche nehmen. Er hat ihre Tochter einmal im Rahmen einer Firmenfeier kurz kennengelernt und will gerne aushelfen.

Wenige Wochen darauf ist es soweit. Ihre Tochter fährt zusammen mit ihnen im brandneuen Dienstwagen in die Firma. Ein bisschen stolz sind sie schon, als sie gemeinsam mit ihr zum Empfang gehen und sie dem dort bereits wartenden Kollegen übergeben. „Benimm’ dich!“, rufen sie ihr noch zu, bevor sie in ihr Büro gehen, wo bereits ihre Sekretärin mit Kaffee sowie ein voller Terminkalender auf sie wartet.

Am Abend wird es mal wieder spät. So bleibt nur kurz Zeit für ein Gespräch mit ihrer Frau. „Wie war dein Tag?“, fragen sie. „Besser als der unserer Tochter, hoffe ich.“, lautet die lapidare Antwort. Ihre hochgezogenen Augenbrauen bringen sie nicht viel weiter. „Ich glaube, das sollte sie dir bei Gelegenheit mal selbst erzählen.“, entgegnet ihre Frau, bevor sie im Badezimmer verschwindet. Sie selbst sind so müde und ihr Kopf von einem anstrengenden Arbeitstag noch so voll, dass sie sich an diesen Abend keine weiteren Gedanken machen.

Ein paar Wochen später berichtet ihre Frau vom letzten Elternabend an der Schule. Sie selbst hatten aufgrund von Abendterminen keine Zeit mitzukommen. Ihre Frau habe ohnehin den besseren Draht zu den Lehrkräften, finden sie. Ihre Tochter habe im Fach Sozialkunde ein Referat gehalten. Darin seien sie nicht allzu gut weggekommen. Sie sind irritiert, ja fast verletzt. Wie das? So ganz genau könne ihre Frau ihnen das auch nicht wiedergeben, daher sei es besser, wenn sie einmal mit ihrer Tochter sprächen.

Die Zeit vergeht. Es sind intensive Wochen mit Budgetplanungen, Personalgesprächen und Strategiesitzungen. Hinzu kommen ihre mehr oder weniger ehrenamtlichen Jobs im Rotary-Club, beim Trägerverein des Heimatmuseums und als Schatzmeister des Turnvereins. Da bleibt kaum Zeit für die Familie.

Dummerweise hat sich ihre Frau beim Treppensteigen auch noch den Fuß verstaucht, weshalb sie ihre Kinder am Wochenende zu diversen Sportveranstaltungen chauffieren müssen. Auf einer Fahrt, bei der sie alleine mit ihrer Tochter auf dem Weg zu einem Hockeyturnier im Auto sitzen, fragen sie nach dem Referat. Ihre Tochter meint nur „Ach, das ist nicht so wichtig. Aber in deine Firma setze ich keinen Fuß mehr.“

Jetzt sind sie doch neugierig geworden. Was denn passiert sei, fragen sie. „Ihr seid ein einziger Verein von Macho-Arschlöchern, das ist passiert.“, platzt es aus Ihrer Tochter heraus. Sie wissen nicht genau, ob sie wütend oder verletzt sein sollen. Aber nun ist ihre Tochter ohnehin nicht mehr zu bremsen. „Ihr sitzt da fett auf euren Sesseln und lasst die Frauen für euch schuften. In Besprechungen reden nur die Männer. Außerdem werden andauernd blöde Witze auf Kosten der Frauen gerissen. Mich kotzt das alles an.“ Sie können nur stumm zuhören. Aber sie nehmen sich fest vor den Kollegen Bereichsleiter zur Rede zu stellen. Was hat der bitteschön mit ihrer Tochter gemacht?!

Sie verschieben die Konfrontation bis zum Mitarbeitergespräch, das drei Wochen später ohnehin ansteht. Erst fragen sie vorsichtig, wie denn der Girls’ Day aus Sicht des Mitarbeiters verlaufen sei. Als der nur wenig erzählt, berichten sie ihm vom Ausbruch ihrer Tochter. Er meint, dass er davon am Tag selbst nichts mitbekommen hätte. Er habe sie zu zwei Meetings und einem Treffen des Frauennetzwerks mitgenommen, wo auch er engagiert sei. Das macht sie stutzig. Er arbeitet beim Frauennetzwerk mit? Wie komme das denn, plane er etwa eine Geschlechtsumwandlung?

Ihr Lachen hallt noch einsam durch den Raum, als er ihnen eröffnet, dass er nicht wisse, wie sich etwas ändern solle, wenn nicht alle an einem Strang zögen. Und da seien eben auch die Männer gefragt.

„Aber was soll sich denn ändern?“, fragen sie erstaunt. Hier laufe doch alles super, und die Arbeitsbedingungen seien für alle besser denn je. Zudem mache das Unternehmen satte Gewinne, davon profitierten schließlich alle. Der Bereichsleiter fragt sie, wie es dann zu erklären sei, dass in den oberen Führungsebenen, also auf Vorstands- und Abteilungsleiter-Ebene, ausschließlich Männer zu finden seien.

Jetzt werden sie wütend, denn der Mann trifft einen wunden Punkt. Das liege, werfen sie ihm entgegen, vor allem daran, dass sich keine Frau bereit erkläre diese Jobs zu übernehmen. Man hätte immer wieder Frauen ermuntert sich zu bewerben. Regelrecht bekniet habe man manche potenzielle Kandidatin. Mit dem Ergebnis, dass irgendwann alle zurückgezogen hätten. Sie selbst seien darüber übrigens mit am meisten frustriert. Die Kollegen in Vorstand und unter den Abteilungsleitern auch. Aber was soll man machen, wenn die Frauen einfach nicht wollen? Ihr Gegenüber zuckt mit den Achseln. Er wirkt resigniert.

Einige Tage nach diesem Austausch sprechen sie ihre Tochter direkt an. „Was war da am Girls’ Day, hat es dir nicht gefallen bei uns?“. Als hätte sie nur darauf gewartet, sprudelt es aus ihr heraus. „Ihr fragt euch, warum bei euch keine Frau in den Vorstand will? Weil sie nicht doof sind, die Frauen! Die sehen doch, wie ihr euren Job macht, und was ihr dafür an Opfern bringen müsst. Sieh’ dich an: Du bist so gut wie nie zu Hause, und wenn, dann sprichst du meist über deine Firma. Ein Glas Wein vor dem Fernseher und ab und zu Fahrdienst zu einer Sportveranstaltung von uns – das ist dein tolle Privatleben. Wer will denn so etwas? Niemand, den ich kenne. Und ich schon gar nicht.“

Puh. Sie müssen erst einmal schlucken. Vor allem, weil sie tief drinnen spüren, dass ihre Tochter einen Punkt hat. Sie verkürzt die Komplexität dessen, womit sie sich tagein, tagaus beschäftigen müssen, natürlich deutlich. Aber im Grunde hat sie Recht. Gespürt haben sie das schon längere Zeit, nur haben sie bislang nie die Perspektive gewechselt. Zum Beispiel, wie sich ein solcher Job für jemanden anfühlen muss, die oder der ganz andere Prioritäten im Leben hat als sie selbst.

Ihre Arbeitsbelastung ist in letzter Zeit tatsächlich noch einmal stark angestiegen. Sie haben immer mehr mit Führungsaufgaben zu tun, zumal sich die Rahmenbedingungen permanent verändern. Das fordert: Zeit und Energie. Und manchmal fragen sie sich insgeheim, wie lange das noch durchzuhalten ist. Dann versuchen sie sich mit dem Blick auf all das, was sie erreicht haben, zu trösten. Wer sich einen Lebensstandard erarbeitet hat, wie sie das getan haben, der muss eben auch gelegentliche Opfer bringen. Ihre Familie hat sich daran gewöhnt. Glauben sie. Hoffen sie.

Aber wenn sie es sich recht überlegen: Ihre eigenen Prioritäten fühlen sich schon ganz lange nicht mehr so richtig passend an. Hinzu kommt, dass sie sich immer öfter kraftlos und irgendwie leer fühlen. Wann hat das eigentlich angefangen? Ist das eine Art Midlife-Crisis oder steckt mehr dahinter?

Man könnte die Dinge auch ganz anders sehen. Und man darf vielleicht nicht immer nur von der eigenen Perspektive aus urteilen. Warum etwa von anderen verlangen, was man selbst nur mehr oder weniger unreflektiert und automatisch zu tun bereit ist? Vielleicht ist es wirklich an der Zeit einmal intensiv über einige Dinge nachzudenken. Sie nehmen sich das fest vor. Wenn sie an ihr Pensum in den kommenden Wochen denken, zweifeln sie aber daran, ob sie wirklich dazu kommen.

Was sie soeben gelesen haben, ist eine Utopie. Ein Mann und Leistungsträger steigt in einen Prozess des Perspektivenwechsels ein, der ihn zu neuen Erkenntnissen über sich, sein Verhalten und seine Prägungen führt. Er beginnt nachzudenken und nach langer Zeit – vielleicht sogar erstmals – Fragen zu stellen.

Bestimmt passiert so etwas gelegentlich tatsächlich. In der Regel hat ein solcher Reflexionsprozess jedoch wohl Seltenheitswert. Der Normalfall ist das, was der Soziologe Ulrich Beck einst als „verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre“ bezeichnet hat: Viele Männer* zeigen sich grundsätzlich daran interessiert weibliche Karrieren zu fördern, Vielfalt zu unterstützen und das Verhalten anderer Menschen kritisch zu hinterfragen. Sobald es jedoch um die Änderung eigener Verhaltensweisen in diesem Zusammenhang geht, fallen sie in alte Reflexe und Gewohnheiten zurück.

Dabei ist Aufgeschlossenheit grundsätzlich ein wichtiger erster Schritt. Doch erst, wenn den Bekundungen Taten folgen, gibt es eine Chance gewisse Systematiken grundlegend zu verändern. Im Falle unseres (vermutlich gar nicht so fiktiven) Abteilungsleiters besteht die Hoffnung, dass sein Prozess andauert. Doch in der Realität lassen sich noch viel zu wenige Männer* (und Frauen*) auf eine solche mentale Reise ein. Sie fügen statt dessen sich in das System ein und passen sich dort, wo dieses System fundamental mit eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen kollidiert, an.

Sobald diese Menschen in Führungspositionen kommen, erwarten sie diese oder eine ähnliche Art der Systemanpassung auch von ihren Mitarbeitenden. Das ist ein fataler Kreislauf: einer, der Menschen in Rollen und Verhaltensweisen zwingt, die ihnen nicht entsprechen, und der ein System verstärkt, das auf Anpassung statt auf vielfältiger Potenzialentfaltung beruht.

Wie kommen wir da heraus?

Vermutlich, indem wir uns von einigen Dogmen verabschieden. Von der Vorstellung etwa, dass eine Führungsposition nur auf eine bestimmte Art und Weise und mit hohem zeitlichen Aufwand auszufüllen ist. Von der Annahme, dass Durchsetzungsfähigkeit in der extrovertiert-männlichen Ausprägung die Grundvoraussetzung für Führungskarrieren ist. Von der Idee, dass Kinder Sollbruchstellen in der eigenen Karrierebiografie sind. Und von vielem anderen mehr.

Am Anfang steht dabei das Reflektieren, das Sich-Einlassen, schließlich das Neu-Denken. Gedankenexperimente können ein erster Schritt sein.

Die zwei Teufelskreise der Frauenförderung

mehdi-genest-389390-unsplash

Foto: unsplash.com

„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem eines sein: ein Schaf.“ (Albert Einstein)

Vor einiger Zeit schrieb ich, dass wir das Thema „Frauenförderung“ besser ganz bleiben lassen sollten. Das war natürlich ironisch und überspitzt formuliert. Was ich damit sagen wollte (und will): Es bringt nicht nur nichts Frauen* einem i. d. R. auf männliches Vorankommen zugeschnittenen System anzupassen. Eine solche Vorgehensweise ist sogar doppelt kontraproduktiv.

Wir stehen vor z. T. riesigen Herausforderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Diese können wir aus meiner Sicht nur mittels kognitiver Vielfalt und im Schulterschluss aller Menschen und Geschlechter bewältigen. Wem dies zu sehr nach sozialromantischer Utopie klingt, für die oder den will ich gerne einen Blick auf die aktuell vorherrschende Praxis werfen.

In der überwiegenden Mehrheit unserer Organisationen herrscht signifikant hoher Anpassungsdruck an ein normatives Umfeld. Dieses Umfeld wird nicht selten als Meritokratie bezeichnet, etwa in der Quotendiskussion: Wir wollen die Besten, nicht die Weiblichsten, heißt es da gerne einmal.

Was nach Gerechtigkeit klingt, ist jedoch ein gewaltiger Trugschluss, denn aufgrund von Rahmenbedingungen, Historie und vorherrschender Mechanismen sind diese Umfelder vornehmlich patriarchal geprägte Systeme. Und diese sind keineswegs auf das Vorankommen der Besten ausgelegt – wie es ja eine Meritokratie versprechen würde -, sondern bevorzugen bestimmte Gruppen und Individuen.

Von Normen und Männern

Sehr viele Unternehmen und Organisationen sind in erster Linie auf das Vorankommen von Männern* ausgerichtet. Entsprechende Hierarchien und Organisationskulturen sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Da ist der Ruf nach Frauenförderung im Sinne reiner Systemanpassung der denkbar schlechteste Ansatz.

Denn wenn Frauen (und weitere „Andersartige“) in einem solchen System Karriere machen wollen, bleibt ihnen zunächst nur die eigene Anpassung an die vorherrschende (männliche) Norm. Passen sie sich nicht an, scheitern sie häufig an den einschlägigen Parametern: „zu emotional“, „fehlende Durchsetzungskraft“ et al. Das ist männliches Framing. So weit, so bekannt.

Diese Parameter stehen jedoch nur stellvertretend für ein viel tiefer gehendes Problem. Frauen haben im Wettbewerb um Einfluss, Gestaltungsmacht und Spitzengehälter signifikante Nachteile gegenüber Männern, was viele Studien belegen. Frauen werden demnach negativer bewertet, wenn sie vermeintlich geschlechteruntypische Emotionen und Verhaltensweisen zeigen. Frauen, die in traditionell männlichen Domänen erfolgreich sind, werden als weniger sympathische und wünschenswerte Führungskraft gesehen. Und Manager*innen weniger erfolgreicher Unternehmen werden weibliche Attribute zugeschrieben, während der Erfolg männlich geprägt ist.

Reflexe der Anpassung

Es liegt also durchaus nahe, wenn Frauen Anpassung an die männliche Norm als Mittel der Wahl identifizieren. Sehr häufig geht dies einher mit entsprechenden Coaching-Maßnahmen und verschiedenen Karriere-Tipps, wie etwa Modulation der Stimme, Anpassung der Kleidung, Kultivierung von Aggressivität u. v. m. Wer diesen Weg einschlägt, erschafft dadurch für sich eine Rolle, eine Projektion von zu erfüllenden Erwartungshaltungen auf das ja willige, da ambitionierte Selbst. Und das hat Konsequenzen.

Denn der Aufwand für die Frau diese und weitere Anpassungsmaßnahmen durchzuführen ist enorm. Zusätzlich birgt es ein Kontinuitäts-Dilemma: Je stärker die Anpassung, desto größer wird das Delta zwischen dem authentischen Ich und der eingenommenen Rolle. Und je größer dieses Delta, desto höher der Energiebedarf, den es zur Aufrechterhaltung dieser Rolle braucht. Das ist nicht zuletzt ein energetischer Teufelskreis, der unmittelbar in ein Burnout münden kann.

Was dabei auf der Strecke bleibt, ist alleine volkswirtschaftlich kaum zu beziffern. Doch hinter vermuteten und tatsächlich erhobenen Zahlen und Statistiken verbergen sich viele schwere Einzelschicksale. Gleichzeitig verschwendet ein System, das derart auf Anpassung setzt, riesiges Potenzial; und das, obwohl der Business Case für Diversity längst steht.

Leaky Pipelines

Frauen verlassen Organisationen in großer Zahl vor Erreichung höherer Macht- und Führungspositionen. Man hat für dieses Phänomen die Bezeichnung „leaky pipeline“ eingeführt. Leider wird nur in den seltensten Fällen hinterfragt, was die wahren Gründe für die Kündigung waren. Zu oft gibt man sich mit dem Euphemismus „Work-Life Balance“ zufrieden. In diesem Zusammenhang ist der Satz „Frauen wollen ja gar nicht“ nur ein müder Versuch das Systemversagen zu kaschieren. In Wahrheit wollen die Frauen selbstverständlich. Wir lassen sie nur nicht.

Dabei können wir es uns eigentlich gar nicht leisten auf eine so große Anzahl von Menschen zu verzichten, die aus den Systemen herausfallen: weil sie ausgebrannt sind, frustriert und demotiviert. Wir geben ihnen einen Namen: „Minderleister*innen“. Aber wir widmen uns ihnen nicht in der gebührenden Form. Denn das wäre eine Führungsaufgabe. Eine Führungsaufgabe, die sehr zeitintensiv ist. Diese Zeit haben wir meist nicht. Die Mär vom Fachkräftemangel ist in diesem Zusammenhang übrigens nur ein weiterer, sehr tragischer Euphemismus.

Fallen diese Frauen dann aus der Pipeline heraus, verschwinden sie zunächst auch aus dem Fokus unserer Wahrnehmung. Auch und gerade die sehr gut ausgebildeten und erfahrenen Arbeitnehmer*innen treten zunächst an die Peripherie unserer Systeme, wo sie sich mehr oder weniger mühsam in veränderten Arbeitsumgebungen abmühen, häufig entkoppelt von wirklicher Wertschöpfung (im betriebswirtschaftlichen Sinne). Das ist ein weiterer volkswirtschaftlicher GAU.

Es geht beim Thema der „System-Dropouts“ übrigens nicht nur um Frauen. Denken wir nur einmal an introvertierte Menschen. Schätzungen zufolge sind 20 bis 50 Prozent der Menschen mehr oder weniger stark introvertiert. Die maßgebliche Norm hingegen verlangt meist: Sei durchsetzungsstark, sei überzeugend, sei laut. Auch hier herrscht also Anpassung pur.

Dabei ist Durchsetzungsstärke, um bei diesem Beispiel zu bleiben, keine exklusive Fähigkeit extrovertierter Menschen. Es gibt unzählige Varianten diese Eigenschaft mit unterschiedlicher Persönlichkeit aufzuladen. Bei weitem nicht alle sind laut oder aggressiv.

Klassische Karrierewege

Das Problem ist: Für Führungspositionen muss man sich in irgend einer Form empfehlen. Man muss auf sich aufmerksam machen. Die Kriterien, nach denen dies erfolgt, sind nahezu allesamt auf männliche Systemerwartung ausgelegt. Beförderungen sind v.a. außerhalb von Tariforganisationen (aber auch z. T. dort) eine Sache von Beziehungen und einem persönlichen Wirkungsgrad, der das männlich-extrovertierte Paradigma klar im Vorteil sieht.

Zeitgenoss*innen, deren Fähigkeiten eher in leiseren, subtileren Kontexten zu Tage treten, finden hingegen kaum Berücksichtigung. Das Ergebnis ist die so genannte „Homosoziale Reproduktion“: Wir bekommen mehr desselben. Somit verstärkt sich das normative System selbst. Das ist der andere Teufelskreis.

Zwei Teufelskreise

Es laufen also zwei Teufelskreise ineinander: Zum einen gibt es ein organisationales System, das sich selbst permanent reproduziert und seine Systembedingungen zur alleinigen Norm erklärt (Homogenität statt Vielfalt), ausgehend von der Haltung, Frauen seien defizitär und müssten erst passend gemacht speziell und aufwändig „gefördert“ werden. Auf der anderen Seite versuchen sich Frauen mit fast allen Mitteln diesen systematischen Erwartungshaltungen anzupassen statt ganz bewusst andere Impulse, Fähigkeiten, Sicht- und Arbeitsweisen einzubringen (Konformität statt Potenzialentfaltung).

Beide Teufelskreise bedingen und verstärken sich gegenseitig und verursachen so eine falsche Wahrnehmung bei den mächtigen Männern. Diese gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass Frauenförderung das Mittel der Wahl zur Ausmerzung weiblicher Defizite ist. Gleichzeitig entwickeln sie ein gefährliches Missverständnis: Denn schaffen es trotz all der Förderung doch wenige bis keine Frauen in die Top-Führungspositionen, so bestätigen sie dadurch das „falsche“ Narrativ vom „Sie wollen ja nicht“. Vera Schroeder schreibt u. a. dazu übrigens einen exzellenten Essay in der heutigen Samstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung. Hier der Link [Paid] dazu.

Sytemwechsel

Statt also auf althergebrachte Weise, etwa mittels Coaching, Mentoring oder Workshop, zu mehr Frauen in Führungspositionen zu kommen, plädiere ich für einen grundsätzlichen Paradigmenwandel: Bauen wir unsere Systeme so, dass Frauen (und alle anderen) ihr Potenzial optimal entfalten können. Davon profitieren schließlich alle.

Und es wäre ein entscheidender Schritt hin zu notwendiger Systemveränderung und weg von der (falschen) Perspektive auf ein vermeintliches Führungsdefizit bei Frauen. Dazu braucht es eine konsequente, ja schonungslose Analyse der wahren Gründe für eine leaky pipeline. Wir müssen auf jeder Ebene wissen wollen, warum dort zu wenig weibliche Führungskräfte ankommen.

Und wo ein solcher Wille ist, tun sich bekanntlich auch Wege auf. Wir brauchen gleich mehrere davon.

 

Machen wir endlich Schluss mit der Frauenförderung

brooke-lark-194253

Frauenförderung muss aufhören! (Foto von Brooke Lark bei unsplash.com)

Wir brauchen nicht mehr Frauen in Führungspositionen.

Moment… wie bitte?! Nicht mehr Frauen in Führungspositionen? Aber genau das predigen doch alle Diversity- und Gleichstellungs-Beauftragten in den Organisationen. Und genau darum ging und geht es doch seit Jahr und Tag im Zusammenhang mit Frauenförderung in Konzernen und in der Politik. Schließlich stagniert der Frauenanteil bei den DAX-Vorständen, und ohne Quote scheint sich auch in der übrigen Wirtschaft nichts zu tun.

Aber Sie haben richtig gelesen: Wir brauchen nicht einfach nur mehr Frauen in Führungspositionen. Denn bevor wir so etwas fordern, müssen wir uns genau ansehen, wie diese Führungspositionen beschaffen sind. Menschen können ihr Potenzial schließlich nur entfalten, wenn das Umfeld passt. Und in diesem Fall passt das Umfeld überhaupt nicht.

Fixing the women

Wir stehen vor großen System-Umbrüchen, weil in unserer Gegenwart einige Entwicklungen kumulieren: Ressourcen-Verknappung, Digitalisierung oder Post-Wachstums-Ökonomie sind in diesem Zusammenhang nur erste Stichworte. Es bringt vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Veränderungen wenig bis nichts, wenn wir Frauen für ein System passend machen, das es auch und vor allem Frauen so schwer macht einen eigenen Weg zu finden, zu gehen, und ihrerseits in Balance zu bleiben; und das vermutlich auch und gerade deshalb nicht mehr zur Bewältigung der angedeuteten Herausforderungen taugen wird.

Dennoch ist Anpassung weiterhin die Strategie der Wahl. Kaum ein Unternehmen, das nicht auf „Frauenförderung“ setzt. Mentoring auf allen Ebenen: reverse, cross oder ganz klassisch. Dazu Seminare und Workshops zu Präsentationstechnik, Kommunikation oder Körpersprache. Ziel ist dabei immer die Frau, nie das System.

Dahinter steckt eine ebenso einfache, wie diskriminierende Grundeinstellung: Frauen seien defizitär und müssten für Führungsaufgaben erst fit gemacht werden. Dass damit mehr gemeint ist, als die Vermittlung kommunikativer oder fachlicher Fähigkeiten, zeigt ein Blick auf die Details.

„Sie kann es nicht, sie will ja nicht“

Männliches Führungsgebaren ist nach wie vor die Norm. Wer dieser Norm nicht entspricht, muss gemäß oben beschriebener Logik angepasst werden. Dabei bleiben mitunter nicht nur die vielen weiblichen* Fähigkeiten und Fertigkeiten auf der Strecke, auch für Individualität ist bei so viel Anpassung wenig Raum. Dabei läge so viel Potenzial in der komplementären Betrachtung des Miteinanders von Frauen und Männern.

Wenn wir weniger Aufmerksamkeit auf die Unterschiede, sondern auf das Miteinander richten würden, läge der Fokus automatisch darauf optimale Rahmenbedingungen für das gemeinsame Wirken zu schaffen. Doch selbst wenn Frauen sich einbringen: Heute kommt es kommt stark darauf an, wer sich einbringt, und auf welche Weise sie oder er das tut. Am Ende ist es immer noch so, dass Männer statusseitig profitieren, wenn sie neue Ideen einbringen, Frauen jedoch eher nicht:

The status bump and leader emergence that resulted from speaking up with ideas only happened for men, not for women.

Es ist aber noch viel perfider. Scheitert eine Frau nämlich an der Führungsaufgabe, sprich: verpufft all die Förderung bei der Probe aufs Exempel, dann trägt ausschließlich die Frau Schuld: „Sie kann es nicht“ lautet das gängige Narrativ. So bestätigt sich das System permanent selbst und sorgt gleichzeitig dafür, dass es sich weiterhin um sich selbst drehen kann.

Um das Narrativ zu stützen, wird gleich noch ein zweites Klischee bedient. Und zwar dann, wenn immer mehr smarte Frauen hinter das System blicken und sich explizit gegen eine klassische Führungs-Karriere aussprechen. Dann heißt es ein wenig gönnerhaft: „Sie will ja nicht.“ Dabei zeugt der Rückzug aus dem System im Wissen um den Anpassungsdruck von erheblich größerem Weitblick als das Festhalten an dummen Paradigmen.

Als Vorbild taugt sie auch nicht

Übrigens sollen Frauen dem Thema Führung nicht nur eine völlig neue Qualität einhauchen, sie sind gleichzeitig noch dazu aufgerufen anderen Frauen den Weg zu ebnen. Empowerment ist eine Art neuer „soft skill“, die frau bitteschön zur Anwendung zu bringen habe, sobald sie ihren Chefinnen-Sessel angewärmt hat. Doch für eine solche Bereitschaft das „role model“ zu mimen, bräuchte es eine gänzlich andere Sozialisation.

Der Anpassungsdruck ist nämlich so hoch, dass viele Frauen, die es „geschafft“ haben, also Führungspositionen innehaben, nicht mehr zum Paradebeispiel für „Sisterhood“ taugen. Der Weg macht etwas mit diesen Frauen. Solidarischer werden sie dabei nicht immer. Und das ist kein Vorwurf, sondern lediglich eine Feststellung.

Systemimmanente Unzufriedenheit

Es gibt eine sehr spannende Forschungsarbeit zur Lebenszufriedenheit von Frauen und Männern (Brockmann, Hilke et al.: „Why Managerial Women are Less Happy Than Managerial Men“, Springer Science + Business Media, Dordrecht 2017).  Bei der Studie auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) wurden „Manager“ mit „Nicht-Managern“ verglichen. Die Ergebnisse sind erhellend. Geht ein Mann in eine Führungsposition, steigt seine Lebenszufriedenheit signifikant. Bei Frauen stagniert dieser Wert bzw. geht sogar leicht zurück. Das bedeutet nichts anderes, als dass man sich das Gerede von „Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen“ sparen kann.

Denn nicht nur macht man Frauen tendenziell unzufrieden, man verschwendet zugleich in erheblichem Maße Ressourcen. Denn wozu soll man die Pipeline mit Frauen füllen, wenn man diese sehenden Auges unglücklich macht und aufgrund eben dieser Tatsache einen Großteil der Frauen wieder verliert, bevor diese an den Unternehmensspitze ankommen? Zumal sich die Führungspositionen stark verändert haben und dies in noch stärkerem Maße weiterhin tun werden. Status zieht längst nicht mehr.

Chef_in zu sein ist kein Lebensziel mehr

Früher war eine Führungsposition die Belohnung für z.T. jahrzehntelanges Ausharren. Wer nur lang genug still hielt und sich keine allzu großen Experimente Fehler erlaubte, der wurde Chef oder, sehr viel seltener: die wurde Chefin. Für viele dieser Führungskräfte endete spätestens dann jegliches Bemühen darum die neue Position auch gut auszufüllen. Statt dessen ließ man es schleifen, denn passieren konnte einem ab dieser Karrierestufe verhältnismäßig wenig.

Das wird zunehmend anders. Wenn sich Hierarchien auflösen, Leadership immer mehr zu einem fluiden Konzept wird und bottom-up das neue top-down ist, dann sind die Herausforderungen an Führungskräfte ebenfalls fundamental im Wandel. Kognitive Vielfalt ist dabei ein Bewältigungskonzept für all das, was wir nicht prognostizieren können.

Diese Vielfalt der Perspektiven, Fähigkeiten und Herangehensweisen erreichen wir jedoch nicht, so lange wir an männlicher Normativität festhalten und Frauenförderung als legitimen Reflex innerhalb dieses Konstrukts akzeptieren.

Machen wir also endlich Schluss damit.

#MeToo und das Schweigen der Männer

kristina-flour-185592

Das Schweigen der Männer (Foto: Kristina Flour bei unsplash.com)

Woody Allen. Roman Polański. Harvey Weinstein. Und kein Ende in Sicht. Jetzt kommt ans Licht, wie ein Hollywood-Produzent jahrzehntelang Frauen sexuell belästigte, bedrängte und vergewaltigte. Und Weinstein ist nur die Spitze der Spitze eines ekelhaften Eisbergs. Unter dem Hashtag #MeToo melden sich viele tausend Frauen* zu Wort und berichten von den schrecklichen Dingen, die ihnen widerfahren sind.

Beziehungsweise: Sie berichten in der Regel gar nicht, sondern schließen sich der Aktion mittels kollektiver Nonmention via Hashtag an. Das ist einerseits ob der schieren Menge an Posts sehr erschreckend, andererseits aber auch kaum greifbar – kann man doch in der Regel nicht hinter die einzelnen „Ich-auchs“ blicken.

Und hier liegt ja durchaus eine Gefahr: Die Erfahrungen werden undifferenziert unter einen Hashtag subsumiert. Dennoch ist das in diesem Fall durchaus legitim, bekommen wir dadurch doch einen Eindruck von der „Alltäglichkeit“ und der schieren Masse der Bedrohung. Hier heiligt der Zweck vermutlich das Mittel.

Und die Männer*? Die schweigen flächendeckend.

Grundsätzlich finde ich es ganz gut, wenn der Aktion auch dadurch Aufmerksamkeit zuteil wird, dass Männer* sich mit Kommentaren zurückhalten. Gerade deshalb, weil auch viele Männer*Opfer sexueller Übergriffe werden. Charles Klymer (Update nach einem Hinweis von Frevilo in den Kommentaren (s.u.) auf diesen Artikel: Meine Auswahl des Zitatgebers war nicht optimal, ich lasse das Zitat aber dennoch stehen.) brachte es in einem Beitrag auf den Punkt, als er schrieb, weshalb Männer sich in diesem Falle zurückhalten sollten:

„I don’t think that’s excluding folks but simply amplifying a specific experience. We should never shy away from taking a step back and amplifying.“

Ich fürchte jedoch, dass das Schweigen der Männer nicht nur mit Rücksichtnahme zu tun hat. Es dürfte mehrere Gründe dafür geben, dass es wieder einmal die Frauen sind, die das Thema öffentlich machen, das für so viele Alltag ist: Sexismus, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen. Es ist erschreckend, wie häufig #MeToo alleine in meiner Timeline auftaucht. Und: Nur die Männer scheint das noch zu überraschen.

Teil des Problems

Zurückhaltung bei diesem Thema kann auch andere Gründe haben. Sehr viele Männer sind sich nach wie vor nicht dessen bewusst, dass sie auch dann Teil des Problems sind, wenn die Taten nicht von ihnen selbst ausgehen. Indem sie wegsehen, wenn andere übergriffig sind, schaffen sie den Nährboden für Sexismus und sexuelle Gewalt. So hart, so einfach ist das.

Ein „System Weinstein“, wenn man so euphemistisch von einem solchen überhaupt sprechen darf, ist nur möglich durch die vielen Menschen, die trotz besseren Wissens nicht den Mund aufgemacht haben. Und wer jetzt meint anmerken zu müssen, dass ja auch die Frauen geschwiegen hätten: Genau das ist das Problem. Frauen sind in diesem Falle – und ich bin ansonsten sehr vorsichtig mit diesen Begrifflichkeiten – die Opfer solcher „Raubtiere“, als die Emma Thompson die Weinsteins dieser Erde ganz richtig bezeichnet hat:

Die Täter hingegen können nur deshalb so ungestraft agieren, weil sie von einer schweigenden Masse gedeckt wurden. Männer treten stets dann in Komplizenschaft, wenn sie sich nicht vehement und hörbar gegen jede Art von Übergriffen und Sexismus stellen. Doch davon sind wir weit entfernt, im Gegenteil: Noch immer verharmlosen viele Männer (und auch manche Frau) das Thema Sexismus und seine Folgen. Das ist der eigentliche Skandal, dessen Auswirkungen uns gerade so schmerzhaft vor Augen geführt werden.

Wo fängt es an?

Erst kürzlich bekam der englische Begriff des „Catcalling“ durch eine mutige Aktion der Niederländerin Noa Jansma auch hierzulande Aufmerksamkeit. Jansma hatte auf Instagram Selfies mit denjenigen Männern veröffentlicht, die ihr durch Zischlaute o.Ä. zu verstehen gegeben haben, dass sie… ja, was eigentlich? Dass sie an ihr interessiert seien? Wie unglaublich armselig. In den Niederlanden wird Catcalling (auch dieser Begriff ist übrigens verharmlosend) bereits z.T. als Ordnungswidrigkeit geahndet. Warum eigentlich nicht in Deutschland?

Wo fängt es an? Diese Frage ist so schwer zu beantworten, dass wir uns gleich der viel wichtigeren Frage widmen sollten: Wo und wie hört es auf? Natürlich muss man sich mit den Ursachen beschäftigen, aber viel wichtiger ist es das Schweigen und die dadurch geschaffene Atmosphäre der Toleranz zu durchbrechen. Und hier sind alle Männer in der Pflicht.

Warum alle Männer? Weil jeder Mann jeden Tag in jedem Kontext die Möglichkeit hat ein Teil der Lösung zu werden. Und ich spreche hier nicht vom Klischee des Weißen Ritters, der bedrängten Frauen zu Hilfe eilt. Statt dessen brauchen Männer eine Wahrnehmung ihrer selbst im jeweiligen Kontext. Sexuelle Belästigung und Sexismus sind nicht immer so offensichtlich wie im Falle des Catcallings. Solche Dinge laufen häufig viel subtiler ab.

Ich kann nur immer wieder an Männer appellieren sich zu (hinter)fragen:

  • Was tat ich um eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts herzustellen?
  • Wie trug ich Sorge dafür, dass Menschen sich sicher fühlen können?
  • Wann erhob ich meine Stimme gegen Ausgrenzung und Gewalt?
  • Wo hinterfragte ich Machtstrukturen, durch die Menschen ausgenutzt werden?
  • Warum habe ich geschwiegen, als meine Stimme gefragt war?

Das ist nur ein Anfang. Aber auf diese Weise können Männer ihren Teil dazu beitragen, dass unsere Gesellschaften als Korrektiv fungieren: Übergriffigkeit und Gewalt hätten so keine Chance mehr.

Brechen wir das Schweigen, werden wir zu einem Teil der Lösung!

 

Stop fixing women! Für neue Normen und Werte im Job.

oscar-keys-60730

Eine meiner dringlichsten Forderungen in der Debatte um Gender Diversity lautet „Stop fixing women!“. Was plakativ klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Denn nach wie vor ist es üblich Frauen beibringen zu wollen, wie sie im (männlichen) System erfolgreich sein können. D.h. man trainiert Frauen Verhaltensweisen an, die sie dazu befähigen sollen sich gegen dominante Männer (und Frauen) durchzusetzen.

Das Problem dabei ist vielschichtig. Zum einen manifestieren wir auf diese Weise das System selbst, indem wir nicht seine Wirkungsweisen und Rahmenbedingungen in Frage stellen, sondern die Akteure im System als defizitär betrachten, wenn sie an Widerständen scheitern. Scheitern bedeutet in diesem Fall die vermeintliche Unfähigkeit in der Hierarchie nach oben zu kommen, sprich: Karriere zu machen.

Eingeschränktes Repertoire

Gleichzeitig fokussieren wir uns auf eine sehr begrenzte Anzahl an Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir zu optimieren suchen. Wir schränken dadurch das Repertoire an menschlichen Verhaltensweisen im beruflichen Kontext extrem ein. Dadurch stufen wir bestimmtes Verhalten als negativ oder zumindest als nicht zuträglich für berufliches Fortkommen ein.

Das ist auf mehrfache Weise perfide. Es werden keine individuellen Stärken entwickelt, sondern Schwächen postuliert und ausgemerzt. Gleichzeitig wird das Set an vermeintlichen Stärken zur Erfolgsstrategie erklärt. Man schafft eine Norm für beruflichen Erfolg, an der sich alle zu orientieren haben. Angesichts zunehmender Komplexität und dem dringenden Bedarf an Vielfalt ist dies eine fatale Entwicklung.

Stets die gleiche Leier

Ich war in den letzten Monaten auf zahlreichen Veranstaltungen und habe an vielen Diskussionen über die neue Arbeitswelt teilgenommen. Sehr häufig lautete der Ratschlag gerade an junge Frauen: Bleib’ im System (auch und gerade bei der Familiengründung), mach’ dich nicht selbstständig, optimiere dich selbst und lerne dich gegen die Männer durchzusetzen.

Ich halte das aus den genannten Gründen für gefährlich und zudem für extrem anmaßend. Derartige Ratschläge ersticken jede Form von Diversity und Individualität im Keim und nehmen den Raum für Innovation und Authentizität.

Optimier‘ dich gefälligst!

Dabei nimmt das systemimmanente Optimierungsprogramm bisweilen geradezu groteske Züge an.

So hörte ich von einer Trainerin, die ihren Kundinnen rät bei einem besonders dominanten männlichen Handschlag ihrerseits den Daumennagel ins Fleisch des Gegenüber zu bohren: als Statement. Eine weitere Übung für nach Durchsetzungsfähigkeit lechzende Frauen lautete: Gehe über einen belebten Platz und weiche niemandem aus. Dabei dürfte nicht nur die Schulter schmerzen. Ein ganz besonderes interessanter Vorschlag lautete: Finde heraus, welches Parfum Dein Alphamännchen-Chef trägt und sprühe Dich damit ein. Geht’s noch!?

Abgesehen davon, dass ich einige der Maßnahmen für übergriffig, gewalttätig und – vorsichtig formuliert – nicht besonders sozial halte: Wohin soll das führen? Welche Normen setzen wir uns für unser zukünftiges Arbeiten? Und welche Palette an Verhaltensweisen wünschen wir uns für unser Miteinander?

Wollen wir Frauen wirklich raten auf ein Lächeln zu verzichten, wenn sie einen erfolgreichen Abschluss bei einem Kunden erzielen wollen? Ist Uniformität und Konformität der Schlüssel für erfolgreiche Karrieren? Geht es um Durchsetzung auf die althergebrachte, „männliche“ Art und Weise? Und ist Manipulation der Schlüssel zum beruflichen Glück?

Oder setzen wir uns ambitioniertere Ziele? Schaffen wir Umfelder für unterschiedliche Charaktere? Definieren wir Leadership neu und entkoppeln wir Führung von Druck und Aggression? Lernen wir Vielfalt wertzuschätzen und stellen wir Raum für Potenzialentfaltung zur Verfügung? Lösen wir uns von alten Statussymbolen und geben wir Macht eine neue Bedeutung?

Wir alle haben die Wahl. Jeden Tag, in jeder Situation. Ich habe mich bereits für eine Richtung. entschieden.