Desidentifikation in der Organisationsentwicklung

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, am Feministischen Salon der Frauenberatungsstelle Köln-Friesenplatz* im Bürgerzentrum Ehrenfeld in Köln teilzunehmen. Neben mir gab auch Prof. Dr. Susanne Völker, Professorin für Genderforschung und Soziologie, wissenschaftliche Leiterin der Einrichtung GeStiK – Gender Studies in Köln und des Masters Gender & Queer Studies an der Universität und der TH Köln, einen Impuls. Gemeinsam diskutierten wir anschließend mit den zahlreichen Gäst:innen, u. a. über Fragen von Männlichkeiten und Feminismus.

Viel zu selten schaffe ich es zu solchen Veranstaltungen. Aber jedes Mal lerne ich neue Perspektiven und Zusammenhänge kennen. Insbesondere die Erkenntnisse der Gender Studies helfen mir, neue Ansätze für meine Arbeit in der Beratung von Organisationen zu bekommen. Frau Prof. Dr. Völker sprach im Zusammenhang mit Geschlechteridentitäten von der Notwendigkeit der Desidentifikation. Sie wies darauf hin, dass wir uns Zuordnungen zu bestimmten Kategorien verweigern müssten, damit u. a. das Verlernen schädlicher Geschlechternormen eine weitgehende Transformation unserer Systeme ermöglichen kann.  Prof. Völker bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Judith Butler:

„Obwohl die politischen Diskurse, die die Identitätskategorien mobilisieren, dazu neigen, Identifikationen zugunsten eines politischen Ziels zu kultivieren, könnte es sein, dass die Nachhaltigkeit von Desidentifizierung für die Neuartikulierung der demokratischen Auseinandersetzung von ebenso entscheidender Bedeutung ist.“

(Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin-Verlag. S. 24. U. a. auch hier auf S. 16 zitiert.)

Ich ziehe daraus u. a. den Schluss, dass es ggf. müßig ist, bestimmte Konstruktionen von Männlichkeit transformieren zu wollen. Zum einen hätte das u. U. zur Folge, dass eine bestimmte Form vermeintlich neuer Männlichkeit selbst normativ wird (etwa Caring Masculinities). Zum anderen geht es vielleicht tatsächlich in erster Linie darum, sich bestimmten Kategorisierungen zu verweigern (Desidentifikation), um dadurch die Voraussetzung zu schaffen, Verhaltens- und Denkweisen, die als „männlich“ gelten, zu verlernen (Unlearning) und damit zu überwinden.

Im Gespräch mit Prof. Völker erhielt ich von ihr den Hinweis, dass Männer als „Akteure der Nicht-Männlichkeit“ am Feminismus beteiligt sein können. Es komme jedoch nicht auf sie, die Männer, an, wie Prof. Völker weiter ausführte:

[E]s geht eher um unwichtig werden. Sie sind die, die zuhören, sich selbst verändern und Positionen (Privilegien) räumen, die sich vom System „Männlicher Herrschaft“ [im Bourdieu’schen Sinne] entkoppeln müssen. Es geht darum, Männlichkeit als Privileg und Zentrierung zu verlernen.“

Übertragen auf den organisationalen Kontext bedeutet das für mich, dass die Bemühungen um die Abschaffung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse nicht nur nicht weit genug gehen, sondern z. T. auch ganz falsche Grundannahmen und damit Wirkrichtungen haben. So falsch es ist, einfach nur weiße cishet-Männer durch weiße cishet-Frauen in den Führungspositionen zu ersetzen oder zu ergänzen, so wenig zielführend ist der Versuch, Führung als Prinzip durch neue männliche oder weibliche Stile und Attribute aufzuladen. Statt dessen bräuchte es auch hier eine Desidentifikation: Führungskräfte müssen sich den normativen Kategorisierungsversuchen verweigern, um mittelfristig überhaupt Zugang zu neuen Repertoires an Denk- und Verhaltensweisen zu erlangen. Wie so etwas gelingen könnte, und in welche Narrative solche Vorgänge eingebettet werden können, wird mich künftig mit Sicherheit sehr beschäftigen.

Wenn ich heute über Männlichkeit im Zusammenhang mit Organisationsentwicklung (aber auch in anderen Umfeldern) spreche, dann zumeist in Verbindung mit bestimmten Rollen: Führung, Partnerschaft, Vaterrolle etc. Prof. Völker stellt eine ganz grundsätzliche Frage: „Ist Männlichkeit eine positive Kategorie?“ So sehr ich die potenziellen Reaktanzen auf eine solche Fragestellung antizipiere, so reizvoll finde ich einen solchen Diskursansatz. Denn er schafft Distanz zu all den Zuschreibungen rund um Männlichkeit, Leadership und Hierarchie. Und diese Distanz könnte endlich den Blick auf wesentliche systemische Zusammenhänge richten helfen, vor deren Hintergrund eine Neukonstruktion von Männlichkeiten jenseits aller Hegemonialität erst möglich wird.

*Danke an Gesine, Chiara und Gaby für die Organisation des Feministischen Salons und für die Einladung zum Austausch. Das Frauenberatungszentrum Köln-Friesenplatz freut sich immer über eine Unterstützung der wichtigen Arbeit in Form einer Spende.

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